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Echte Herausforderung für Joschka Fischer

betr.: „Europa neu denken“ (Jürgen Gottschlich), „Öcalan ist kein Arafat – oder?“ (Günter Wallraff), taz vom 11./14. 12. 98

In allen Kommentaren, Interviews usw. zur Türkei, zur Kurdenfrage und aktuell zur Frage eines internationalen Strafgerichtshofes, vor dem Öcalan sich verantworten soll, scheint mir eine Tatsache immer vergessen oder völlig vernachlässigt zu werden: Diejenigen, die in der Türkei das wirkliche Sagen haben, orientieren sich nicht an Europa, sondern an den USA. Unter anderem dürfte es nur wenige hohe Militärs, die eigentliche Macht in der Türkei, geben, die nicht amerikanische Militärakademien durchlaufen haben. Solange die USA die undemokratischen Zustände in der Türkei hinnehmen oder sogar befördern, werden die politischen und militärischen Eliten des Landes keine Veranlassung sehen, ihre mafiöse Pfründenwirtschaft, von denen der kurdische Krieg nur ein Ausdruck und die Person Öcalan ein zwangsläufiges Ergebnis ist, zu beenden. Europäischen Politikern jedweder Couleur, welche die „Frechheit“ besitzen, auf Demokratiedefizite hinzuweisen, werden diese Politiker und Militärs angesichts des „großen amerikanischen Bruders“ im Rücken weiterhin nur den Stinkefinger zeigen. Insofern finde ich Wallraffs Vorschlag zur Anbahnung „behutsamer Kontakte zu türkischen Politikern durch Staaten wie Frankreich, Norwegen und Schweden“ reichlich naiv.

Wenn die europäischen Politiker wirklich etwas für die Demokratie in der Türkei tun wollen, dann müssen sie zwangsläufig einzeln und zusammen zunächst ein ernstes Wort mit Mr. Clinton und Mrs. Albright sprechen und sie fragen, weshalb sie zwar die Aufnahme der Türkei in die EU laut fordern, aber man von ihnen zum Beispiel nie ein Wort zur in der Nato einzigartigen Vormachtstellung des türkischen Militärs in der Politik hört. Solch ein Gespräch mit Madeleine Albright müßte doch auch für Joschka Fischer eine echte Herausforderung sein!

Insofern muß ich Jürgen Gottschlich und Günter Wallraff, wenn schon nicht widersprechen, so doch zumindest ergänzen: Nicht Europa, sondern vor allem die USA sind gezwungen, ihr Verhältnis zur Türkei zu klären. Wollen sie die Türkei weiter als aggressiven, aber ihnen gegenüber folgsamen Wachhund in der Nähe der nahöstlichen Ölquellen oder als demokratischen und in sich befriedeten Teil eines demokratischen Europas? Ganz konkret bedeutet dies, daß ein internationaler Gerichtshof, der über Öcalan zu Gericht sitzt, ohne Einbeziehung der USA wenig wert wäre. Ich stimme Wallraff zu, daß dieser Gerichtshof die deutsche Verstrickung in den Kurdenkrieg zum Thema machen müßte, aber eben nicht nur die deutsche, sondern auch die ungleich massivere amerikanische Verstrickung. Hans-Günter Kleff, Berlin

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