: EXPRESSIONIST AUS VERSEHEN
■ „George Rouault“ in der Nazareth-Kirche
„Ich bin so wenig aktuell“, meinte George Rouault 1913 und konnte nicht wissen, daß er 75 Jahre später noch Recht behalten sollte. Ein Fixstern mitten im Gefunkel von wunscherfüllten Sternschnuppen und Kometen mit gewaltigem Schweif, stand und steht er jenseits der jeweils aktuellen Kunstdiskussion. Als die Moderne in den besten Jahren war, mischte er teure leuchtende Pigmente in seine Farben, um den Bildern den Glanz von Kathedralfenstern zu geben, und als die Kunst und Europa ihre Kämpfe austrugen, setzte er christliche Mythologie in Szene. Zum rührigen Kunstbetrieb der zwanziger und dreißiger Jahre hatte er wenig Kontakt; Expressionist scheint er mehr aus Versehen denn aus Bekennerdrang geworden zu sein. Er ist so wenig und doch so aktuell wie etwa Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach, deren Humanismus er teilt, auch wenn er in die Fänge des Katholizismus geriet.
Das Kunstamt Wedding hat nun eine kleine Ausstellung hauptsächlich graphischer Arbeiten und einiger Aquarelle zusammengestellt. Deren Kernstück und wohl die Essenz von Rouaults Denken und Intention ist die Serie Miserere. Als 1917 Ambrois Vollard Rouaults Händler wurde, sperrte er ihn in ein eigens ausgebautes Pariser Atelier und ließ ihn sein in Anlehnung an Jarrys „König Ubu“ verfaßtes Buch Die Wiedergeburten des Vater Ubu illustrieren. Die Arbeit dauerte mehrere Jahre, und nebenbei schuf Rouault die Serien Miserere, Die Blumen des Bösen nach Baudelaire und Passion. Miserere ist ein monumentaler Schwarz/Weiß -Zyklus der großen Themen: Krieg, Einsamkeit, Trennung, Freundschaft und Tod, in Kupfer geätzte Dokumente des Leids und eines humanitären Trotzes. Rouaults Blick in das Mark der Zeit ergibt ein düsteres Szenario der Unfaßbarkeiten des Lebens: gebeugte, schwere Gestalten, die von einigen mächtigen Konturen niedergedrückt zu werden scheinen; Straßenfluchten, die ungewisse Schlunde werden; brennende Städte. Und daneben die nach dem Überleben trachtenden Menschen: Bauern, eine Mutter mit Kind und Soldaten. Leider gehen die Aussteller nicht auf die Texte des Künstlers ein, die den Zyklus begleiten.
Ein amerikanischer Diplomat machte den Vorschlag, einige Druckplatten zu vergolden und in die Mauern der US-Botschaft einzulassen. Rouault lehnte ab. Dennoch zeigte das Museum of Modern Art in New York 1938, als seine Bilder in Deutschland aus den Museen verschwanden (Rouault: „Exkommunizierung“), das graphische Werk Rouaults.
Darunter war auch die nun zu sehende Serie Die Blumen des Bösen, die in jeder Weise einen Kontrast zu Miserere darstellt. Daß Rouault Ende des 19.Jahrhunderts als Glasmaler anfing, läßt sich gut nachempfinden: Die Farben besitzen eine außergewöhnliche Leuchtkraft und die Figuren, seine Pierrots, Dirnen, Lakaien und Richter scheinen aus Bleistreben, wie sie in Kirchenfenstern benutzt werden, zusammengesetzt zu sein und wirken ein wenig wie Gliederpuppen, die in den arg verkürzten Bildraum präsentiert werden. Allerdings tendieren die Arbeiten bei der Art der Präsentation schnell zum Kunstgewerblichen. Auch hier wären begleitende Textauszüge angebracht gewesen, denn es handelt sich immerhin um Illustrationen, und bei der kommentarlosen Aneinanderreihung von 15 und mehr Arbeiten gleicher Größe und gleichen Stils gerät das Eine und das Andere zur Tautologie, die dem Wert der Blätter nicht gerecht wird.
Mario Schmidt
„George Rouault“, bis 23.November im Schinkelsaal, Alte Nazareth-Kirche am Leopoldplatz; Katalog: 40 Mark.
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