EUROFACETTEN: Jung, fit und schön...
■ Gegen den Zwang zur Gesundheit
Was nützen abgesenkte Kantsteine, Rampen, akustische Ampeln oder Einstiegshilfen bei Bus und Bahnen? Was bringt ein gesetzliches Verbot von Diskriminierung, wenn behinderten oder gebrechlichen Menschen die Luft zum Atmen genommen wird? Nicht wirklich, dennoch tödlich. Wie oft wurde der Schaden beklagt, der dadurch angerichtet wird, daß Kinder tagtäglich Gewaltszenen im Fernsehen erleben. Doch wieviel entsetzlicher sind die Folgen der ständigen Berieselung mit Bildern schöner, gesunder und junger Menschen. Ununterbrochen! In Spielfilmen, Gameshows, Informationssendungen, bei Sportübertragungen, in Werbespots. Behindertes und sonstwie von der Norm abweichendes Leben kommt nicht vor.
Solcherart beeinflußte Menschen glauben zu gern den Versprechungen und scheinbaren Gewißheiten der modernen Medizin. Einer Medizin, die mit ihrer Fülle an vorgeburtlichen Untersuchungen mehr und mehr Behinderungen zu vermeidbaren Übeln erklärt. Geht dennoch mal was schief, dann springen die Juristen ein: Ärzte werden zu Schadensersatz verurteilt, behinderte Kinder verklagen ihre Mütter, ungeborene Behinderte erstreiten sich ihr Recht, abgetrieben zu werden.
Zur ideologischen Absicherung und Beruhigung etwaiger Zweifel stehen schließlich noch moderne Philosophen mit ihrer ach so praktischen Ethik bereit: Habt keine Bedenken, das, was ihr da verhindert, wegmacht oder tötet, hat mit euch nichts zu tun. Das sind keine Personen wie ihr. Mit jedem Behinderten, den ihr verhindert, vergrößert ihr die Gesamtsumme des Glücks der Gesunden und Normalen. Er ist keine bloße Gefahr mehr, er ist längst schon da: der Zwang zur Gesundheit. Und es sind nicht die Rechten, die Gestrigen und Rückwärtsgewandten, die ihn uns bescherten. Nein. Auch Ihr, liebe taz-Leserinnen und taz-Leser, seid dafür verantwortlich. Ihr aufgeklärten, modernen, gesundheits- und ökologiebewußten Menschen. Ihr, die ihr vielleicht die Utopie einer friedlichen, sozial gerechten Gesellschaft, die aus den heutigen sozialen Konflikten und Klassenkämpfen entsteht, verloren habt, und nun um so mehr bereit seid, alles zur Erhaltung von Gesundheit und intakter Natur in der kleinen Welt um Euch herum zu tun. Ihr, die Ihr so bereitwillig jede Vorsorgeuntersuchung wahrnehmt, jede Fitness-Welle und jede Gesundheitskampagne mitmacht. Zum Wohl. Gerlef Gleiss
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