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EU will Kulturerbe digitalisierenRaus aus dem Bergwerk

Die Europäische Union will den Bestand europäischer Bibliotheken, Museen und Archiven online allgemein zugänglich machen. Das erfordet Geld - und Umdenken im Urheberrecht.

Anna Amalia Bibliothek in Weimar Bild: dpa

Ein Prozent ist nicht viel. Andererseits ist ein Hundertstel von 2,5 Milliarden eine ganze Menge. Auf diese Zahl schätzt man nämlich die Gesamtmenge aller Bücher, die in Europas Bibliotheken eingelagert sind. Und eben ein Prozent davon liegen als digitale Kopie vor, also eingescannt und in Netzwerken gespeichert. Nicht genug, findet EU-Medienkommissarin Viviane Reding und fordert deshalb verstärkte Anstrengungen aller Beteiligten. Die Mitgliedstaaten sollen mehr finanzielle Mittel bereit stellen, die Institutionen stärker miteinander kooperieren.

Digitale Bibliotheken

Projekte aus Deutschland

www.zvdd.de

Das "Zentrale Verzeichnis digitalisierter Drucke" weist Zeitungen, Zeitschriften, Musikdrucke oder "Kleinschrifttum" nach, die in digitalisierter Form vorliegen und wissenschaftlichen Standards genügen.

http://www.bam-portal.de/

Das "Gemeinsame Portal für Bibliotheken, Archive und Museen" weist die digitalisierten Bestände aus Bibliotheken, Archiven und Museen nach.

www.vascoda.de

Vascoda ist ein interdisziplinäres Internetportal, das wissenschaftliche Information aus Bibliotheken, Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen nachweist.

www.kulturerbe-digital.de

Die Website sammelt Informationen zum Stand der Retrodigitalisierung in Deutschland.

Europaweite Projekte

http://www.europeana.eu/

"Europeana" bietet Nutzern den direkten Zugriff auf digitalisierte Materialien aus Museen, Archiven, Bibliotheken sowie Ton- und Bildarchiven in Europa. Der Prototyp wird im November 2008 online gehen.

echo.mpiwg-berlin.mpg.de

Die Seite "European Cultural Heritage Online" der Max-Plank-Gesellschaft sammelt Daten zu digitalen Sammlungen aus Kultur und Wissenschaft.

Private Initiativen

www.libreka.de

Die Website bietet Volltextsuche in aktuellen Publikationen. Rund 300 Verlage beteiligen sich an ihr.

http://books.google.de/

Die Buchsuche von Google.

www.archive.org

Das "Internet Archive" ist ein gemeinnütziges Projekt, das sich der Archivierung digitaler Daten (Texte, Filme, Bilder, Sound) in frei zugänglicher Form widmet.

http://www.zeno.org/

Zeno.org ist eine deutschsprachige Online-Bibliothek, die gemeinfreie Texteditionen und Bilder bereitstellt.

Die Kommissarin selbst wird in den kommenden zwei Jahren rund 120 Millionen Euro für die Entwicklung digitaler Bibliotheken und Archive und die Verbesserung der Zugriffsmöglichkeiten bereit stellen. Bloß: Das deckt die Ausgaben bei weitem nicht. Um fünf Millionen gedruckte Bücher nachträglich in elektronische Form zu verwandeln, sind rund 225 Millionen Euro notwendig. Weitere Kosten verursachen die digitale Erfassung anderer Kulturgüter wie Gemälde, Manuskripte oder Kunstgegenstände.

Hinter den Zahlen, Statistiken und Ankündigungen steckt der Wunsch, das europäische Kulturerbe digital zu sichern und in einer Art universalen Bibliothek zugänglich zu machen. Im November soll die Europäische Digitale Bibliothek "Europeana" online gehen. Dann werden erstmals ausgewählte digitalisisierte Titel aus europäischens Archiven, Museen und Bibliotheken in einem Internetportal gebündelt sein, mit freien Zugriffsrechten für alle. Über zwei Millionen multimediale Objekte wie Bücher, Zeitungen, Archivmaterial, Fotografien, Gemälde oder Ton- und Bilddateien stehen zum Start zur Verfügung, bis 2010 soll diese Zahl verdreifacht werden.

Das Vorhabden soll den Rückstand Europas gegenüber den USA in Sachen Online-Archivierung aufholen. Als vor vier Jahren Google ankündigte, Bestände amerikanischer und britischer Bibliotheken im großen Stil zu scannen und ins Netz zu stellen, war die Aufregung unter Europas Kulturbewahrern groß. Kritiker befürchteten eine Hegemonie englischsprachiger Inhalte.

Aber nicht nur nationale Empfindlichkeiten kamen bei der Entscheidung, das eigene Kulturerbe zu virtualisieren, zum Tragen. Die Digitalisierung soll helfen, seltene oder vom Verfall bedrohte Exponate in den Museen zu bewahren. Forscher müssen sich dann nicht mehr über das empfindliche Original beugen, um mittelalterliche Handschriften zu lesen. Kunstfreunde können bequem von zu Hause aus Gemälde betrachten, die in Ausstellungen über ganz Europa verteilt sind.

Die Dinge einerseits zu bewahren, andererseits zugänglich zu machen, waren bislang miteinander schier unvereinbare Unterfangen. Die Langzeitarchivierung von Kulturgut erfolgte meist nach dem Prinzip wegschließen und niemanden ranlassen. Seit 1975 vergräbt die Bundesrepublik alles, was ihr erhaltenswert erscheint, in einem Bergwerkstollen bei Freiburg im Breisgau. Unter der Verantwortung des Bundesamtes für Katastrophenschutz lagern dort Kopien der wichtigsten Dokumente aus Kultur und Geschichte Deutschlands, vom Vertragstext des Westfälischen Friedens bis zu den Bauplänen des Kölner Doms. Eingeschweißt in genormte Edelstahlbehälter sollen die Mikrofilme so das nächste halbe Jahrtausend überdauern. Nur: Wem nützt eine Information, die hinter Gitter gesteckt wird? Im Cyberspace, so die Hoffnung, könnte das Wissen ebenso gut aufgehoben werden und dennoch allen zur Verfügung stehen.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. In Deutschland ist lediglich rund ein Viertel der in Museen digital vorliegenden Bestände auch online frei zugänglich. In einer Umfrage unter den Museen in Deutschland gab zudem nur ein Drittel der Einrichtungen an, überhaupt mit der Digitalisierung ihrer Exponate begonnen zu haben. Um das ehrgeizige Ziel einer einheitlichen europäischen Sammlung im Internet zu erreichen, sieht Monika Hagedorn-Saupe vom Institut für Museumsforschung daher vor allem noch einen "sehr hohen Digitalisierungsbedarf" in den Kultureinrichtungen. Zudem müssten die verschiedenen Sparten, also Bibliotheken, Museen und Archive, sich besser miteinander abstimmen, so die Expertin. Immerhin kann es dem Bürger im Zeitalter der digitalen Reproduktion egal sein, welche Institution das Original vorrätig hält.

Zum finanziellen Aufwand und den organisatorischen Herausforderungen der Kooperation zwischen mehreren tausend Institutionen - allein in Deutschland zählt man mehr als 18.000 Bibliotheken, 6.500 Museen, und 6.000 Archive - kommen technische und rechtliche Schwierigkeiten. Was digital archiviert wird, ist keineswegs, wie gerne geglaubt wird, unbegenzt haltbar. Mindestens alle zwei bis drei Jahre sollten CDs umkopiert werden, um sich vor Datenverlust zu schützen, mahnen Experten. Dazu kommen die Probleme der Komprimierung und der Interkompatibilität von Daten und Umgebungen.

Die EU steht sich selbst im Weg

Weitere Beschränkungen legt das Urheberrecht den digitalen Bibliothekaren an. Hier steht sich die EU gerne selbst im Weg: Einerseits bekennts sie sich gern zum Recht auf freien Informationszugang, andererseits verschärft sie seit Jahren, mit Rücksicht auf die Interessen der Medienindustrie, die Rahmenbedingungen für den Umgang mit geistigem Eigentum. Um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, stellen Bibliotheken daher nur solche Werke online zu Verfügung, deren Autoren oder Schöpfer lange genug tot sind. Aktuelle Werke können so nicht berücksichtigt werden. Das 20. Jahrhundert droht somit zum "Schwarzen Loch" zu verkommen, wie Experten warnen.

Doch es gibt auch Hoffnungsschimmer. Das im Juli erschienene "Grünbuch Urheberrechte in der wissensbestimmten Wirtschaft" der EU-Kommission empfiehlt für eine künftige Novelle Lockerungen des Urheberrechts im Kontext von Bildung und Wissenschaft. Vor allem soll Rechtssicherheit geschaffen werden für so genannte verwaiste Werke, deren Urheber nicht mehr bestimmbar sind. Digitalisierungen, die dem Zweck dienen, Menschen mit Behinderung den Zugang zu Material zu erleichtern, sollen ebenfalls verstärkt gefördert werden.

Bereits online ist eine Demoversion von "Europeana". Die Ehre, "Europe's Greatest Collections" zu eröffnen, hat man Vincent van Gogh überlassen. Dessen Gemälde eines Paares ausgetretener Schuhe eröffnet die virtuelle Tour, dann geht es Schlag auf Schlag: Eiffelturm, Christopher Columbus, mittelalterliche Versepen. Alles ist anklickbar, viele Funktionen sind den Gepflogenheiten des Web 2.0 entnommen. Das Ganze wirkt weniger wie ein beschaulicher Museumsrundgang statt wie ein multimediales Lexikon, in dem Gegenstände, Epochen und Länder nur so durcheinanderwirbeln.

Zum Schluss verspricht einem die Tour noch ein Highlight, und tatsächlich: Mit dem letzten Mausklick wird man aus der Europeana entlassen - und landet ausgerechnet auf einem YouTube-Video, das einen wilden Remix aus Bild- und Tonmaterial präsentiert. Die Überraschung könnte größer nicht sein: Eben war man noch im alten Europa, das sein sorgsam gepflegtes Kulturerbe nur schwerfällig in Richtung digitale Zukunft bewegt, schon ist man im Zeitalter von Mashups und nutzerbestimmten Inhalten. Man kann diese Wendung als versteckte Aufforderung verstehen. Europa sollte damit beginnen, seinem kulturellen Erbe nicht nur die physischen, sondern auch die rechtlichen Fesseln abzunehmen. Das Wissen der Welt nicht länger als kommerziell auszubeutende Ware zu begreifen - damit wäre ein echter Vorsprung gegenüber Google & Co gewonnen.

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