EU stellt sich kraftlos zur Wahl: Der politische Zwerg Europa
Der Krise in Tschechien folgt die Krise des europäischen Rats. Die EU ist zerrüttet und kraftlos. Das zeigt sich auch im Auftreten gegenüber dem US-Präsidenten.
BRÜSSEL taz Jeder dritte wahlberechtigte Europäer hat fest vor, von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. So weit die gute Nachricht. Jeder Fünfte allerdings weiß jetzt schon, dass er nicht zur Europawahl gehen wird. Und der Rest? Laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage könnte die Wahlbeteiligung Anfang Juni unter das Rekordtief von 2004 fallen. Damals lag sie bei 45 Prozent, was von Europapolitikern als verheerendes Signal wahrgenommen wurde. Mit Recht. Denn das Europaparlament ist die einzige europäische Institution, die ihre Legitimität aus dem Mandat der Wähler bezieht. Wenn mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten müde abwinken, ist dieses Mandat nicht mehr viel wert.
Verübeln kann man den Wählern ihr Desinteresse nicht. Sechs Wochen vor der Europawahl präsentiert sich die Europäische Union mal wieder in besonders desolatem Zustand. Derzeit ist nicht einmal geklärt, wer dem mächtigsten EU-Gremium, dem Rat der Staats- und Regierungschefs, eigentlich vorsteht. Bis Ende Juni führen die Tschechen die Amtsgeschäfte. Tschechiens Ministerpräsident Mirek Topolanek stolperte Ende März über ein Misstrauensvotum. Vor knapp zwei Wochen wurde der Leiter des Statistikamts zum neuen Regierungschef ernannt. Jan Fischer soll bis zum 9. Mai ein Kabinett aus parteilosen Experten zusammenstellen. Ob bis dahin er, sein Vorgänger oder der euroskeptische Staatspräsident Václav Klaus den EU-Ratspräsidenten gibt, weiß in Tschechien niemand so genau.
Das Wahlvolk: Vom 4. bis zum 7. Juni finden in allen 27 Mitgliedsländern der EU Europawahlen statt. 375 Millionen Menschen wählen 736 Abgeordnete. Da Miniländer wie Malta mindestens fünf Abgeordnete stellen, Deutschland als größtes Land aber auf 99 Abgeordnete beschränkt ist, verteilen sich die Stimmen ungleich. In Malta schicken 60.000 Wähler einen Repräsentanten nach Brüssel, in Deutschland sind es 800.000.
Die Wahlparteien: Grenzüberschreitende Listen gibt es nicht. Mehrere kleine Parteien treten in allen Mitgliedsstaaten an, werden aber wohl an der Fünfprozenthürde scheitern, die es in einigen Ländern gibt. Für Überraschungen könnte die neue Europapartei "Libertas" sorgen, die vom irischen Unternehmer Declan Ganley gegründet wurde. Libertas gibt sich basisdemokratisch, tritt aber mit Kandidaten an, die eine nationalistische Vorgeschichte haben.
Das Wahlverhalten: Prognosen zufolge wird sich an den Machtverhältnissen im neuen Europaparlament wenig ändern, die Konservativen bleiben stärkste Kraft, gefolgt von den Sozialisten. Der nationalistische Flügel könnte allerdings gestärkt aus der Wahl hervorgehen und es auf Fraktionsstärke bringen. In Berlin soll der Stimmzettel 94 Zentimeter lang werden, damit 31 Parteien Platz finden - mehr als je zuvor. DPS
Beim ersten Gipfeltreffen der Europäer mit dem neuen US-Präsidenten in Prag präsentierte sich die Union denn auch ziemlich kopflos. Die tschechischen Gastgeber führten sich auf wie zerstrittene Sandkastenkinder. Auf der Prager Burg, dem Amtssitz des tschechischen Präsidenten, wehte neben der tschechischen nur die amerikanische Fahne. Das blaue Tuch mit den zwölf gelben Sternen flatterte dafür auf einem Gebäude gegenüber, das zum tschechischen Außenministerium gehört.
In Amerika wäre es vermutlich undenkbar, dass ein Gouverneur ausländische Besucher nur mit der Flagge seines eigenen Bundesstaats willkommen heißt, weil er die Vereinigten Staaten nicht leiden kann. Kein Wunder also, dass Barack Obama aus solchen Kindereien den Schluss zieht, die Europäische Union sei den USA kein gleichberechtigter Partner. Wahrscheinlich glichen deshalb die Vorschläge, die er beim Treffen in Prag machte, eher schroffen Anweisungen als freundlichen Empfehlungen. Die EU solle die Türkei bald in die Union aufnehmen und die osteuropäischen Länder in die Eurozone lassen - recht unverblümt für einen, der angeblich anreiste, um zuzuhören und zu lernen.
Aber wer hätte ihn zurechtweisen sollen? Ein Exregierungschef Topolanek, der vom eigenen Volk auf dem Burgplatz ausgebuht wurde? Ein Noch-Kommissionspräsident Barroso, der zu allem nickt und lächelt, weil er das Wohlwollen aller Regierungschefs für seine Wiederwahl braucht? Ein zu Hause ungeliebter britischer Premier Gordon Brown, dessen Land der Eurozone selbst nicht angehört und der die Türkei sofort aufnehmen würde, weil ihm der innere Zusammenhalt Europas gleichgültig ist?
Die Amerikaner führten Regie beim Treffen in Prag. Sie legten das Zeremoniell fest, sie bestimmten, mit wie vielen Journalisten der Präsident sprechen würde - mit 27 amerikanischen und mit 27 europäischen nämlich. Das ist ja auch nur logisch: einer für Montana, einer für Deutschland, einer für Texas, einer für Frankreich … Eine solche Beschränkung hat es bei europäischen Gipfeltreffen noch nie gegeben.
Europa präsentiert sich als hilflos, innerlich zerrüttet, ein politischer Zwerg - das ist die Ausgangslage für den Europawahlkampf. Diese Woche und Anfang Mai wird das Plenum in Straßburg nochmals tagen, um einige große Gesetzesprojekte in letzter Minute auszuhandeln. Selbst wenn das gelingen sollte, wird die Bilanz der Legislaturperiode mager genug.
Eine schlecht verdaute EU-Erweiterung, eine ungeliebte Dienstleistungsrichtlinie und eine Chemikaliengesetzgebung, die ihren Praxistest noch vor sich hat - die Kandidaten werden sich schwertun damit, in ihren Wahlkreisen die Arbeit der letzten fünf Jahre in gutem Licht zu präsentieren. Um die Bilanz aufzuhübschen, wurden in den letzten Monaten rasch einige Gesetze im verkürzten Verfahren durch Rat und Parlament geschoben. Sämtliche Verhandlungen zum Klimapaket wurden unter Ausschluss der Öffentlichkeit zwischen Ratsvertretern, Kommissionsmitarbeitern und einer Parlamentsdelegation ausgehandelt. Dem Plenum blieb nichts anderes übrig, als das Ergebnis in einer einzigen Lesung abzunicken.
Auch das neue Telekommunikationsgesetz, das Energiepaket und die umstrittene Arbeitszeitrichtlinie sollen auf diesem Weg noch vor der Sommerpause durchgebracht werden. Bei den Energie- und Kommunikationsnetzen geht es vor allem um die Frage, ob eine europäische Kontrollinstanz eingeführt wird oder ob die nationalen Regulatoren zuständig bleiben. Die Wochenarbeitszeit will das Parlament auf 48 Stunden begrenzen, die Mitgliedstaaten kämpfen um zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel. Bis Ende April soll ein Kompromiss gefunden werden, damit in der letzten Plenarwoche im Mai noch abgestimmt werden kann. Für den Rat führt der tschechische Arbeitsminister Petr Necas die Verhandlungen, Anfang Mai wird er durch einen parteilosen Neuling abgelöst.
Obwohl der Rat durch die politische Situation in Tschechien stark geschwächt ist, haben die europäischen Regierungen ein Interesse daran, möglichst viele Projekte noch vor der Europawahl abzuschließen. Denn sollte der Lissabon-Vertrag doch im Herbst in Kraft treten, würden die Mitspracherechte des EU-Parlaments in vielen Politikbereichen wachsen. Das Parlament hat bereits angekündigt, bestimmte Projekte dann ins Mitentscheidungsverfahren zu übertragen. Es könnte sogar Verfahren ganz neu aufrollen.
Wenn sich die Abgeordneten im September zu ihrer ersten regulären Sitzung treffen, ist aber ans Gesetzemachen noch nicht zu denken. Zwar wird am ersten Juli Schweden den EU-Vorsitz übernehmen und als verlässlicher und erfahrener Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Doch die Lähmung wird mindestens andauern, bis Irland im Herbst sein zweites Referendum zum Lissabon-Vertrag abgehalten hat. Die alte EU-Kommission soll bis dahin übergangsweise im Amt bleiben.
Und selbst wenn die Iren angesichts der Wirtschaftskrise ihren Widerstand gegen den neuen Vertrag aufgeben, ist er damit noch lange nicht in Kraft. Es fehlen die Unterschriften aus Tschechien, Polen und Deutschland. Dabei hat gerade das tschechische Präsidentschaftshalbjahr deutlich gemacht, warum sich Europa, wenn es auf der Weltbühne gehört werden will, eine instabile politische Führung nicht leisten kann. Dieser Pfusch kann immer wieder passieren, wenn weiterhin jedes Land einmal an der Reihe ist. Ein großer Korruptionsskandal in Bulgarien, der in das bulgarische Semester fällt, eine Staatspleite, die das ungarische Halbjahr überschattet oder eine Regierungskrise in Italien sind kein besonders unrealistisches Szenario.
Die jüngste Eurobarometer-Umfrage zeigt die unverändert hohen Erwartungen an die Union. Knapp 60 Prozent der Befragten wollen, dass die EU etwas gegen die hohe Arbeitslosigkeit unternimmt. Ein Drittel sieht Verbrechensbekämpfung, Energiesicherheit und Kampf gegen den Klimawandel als europäische Kernaufgaben. Doch Volksvertreter, an denen das Volk jedes Interesse verloren hat, sind für diese Aufgaben nicht besonders gut gerüstet.
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