EU-Wahl in Schweden: Der Herr Sozialdemokrat
Der Nachbar macht sich schick für den Gang zur Urne. Es sollte dann auch ein guter Tag werden für den erklärten Gegner der Schwedendemokraten.
H err Andersson trägt entweder Arbeits- oder Sportklamotten. Natürlich, denn sein Leben besteht primär aus Arbeit und Joggen. Umso überraschter war ich, ihn in Jeans, Hemd und Cowboystiefeln zu sehen. Er hatte sich schick gemacht fürs Wahllokal. „Ich habe ewig keine Jeans angehabt“, sagte er auf dem Weg dorthin, selbst verwundert.
Ich saß neben ihm in seinem Volvo, durfte mitkommen und mir alles angucken. Wem dieser Nachbar seine Stimme geben würde, wusste ich längst. „Man ist ja trotz allem einfacher Arbeiter“, hatte er mir schon vor Monaten erzählt. Daraus folgt für ihn nur eins, und das darf auch jeder wissen. Als wir beim Gemeindehaus auf den Parkplatz fuhren, bekräftigte er es nochmal: „Von mir aus könnte man mir ein Megafon geben und ich rufe es über das ganze Dorf: Hallo, hallo, Herr Andersson wählt die Sozialdemokraten!“
Das erfuhren die Wahlhelferinnen dann auch ohne Megafon, denn er fand den Wahlzettel seiner Partei nicht direkt, sie mussten ihm suchen helfen. So läuft es hier: Jede Partei hat ihren eigenen kleinen Zettel, man greift ihn sich aus einem Kasten und steckt ihn in einen Umschlag. Und jetzt dies: Jemand hatte einen Zettel der Zentrumspartei vor den Sozialdemokraten-Stapel gestellt. „Betrugsversuch!“, rief Herr Andersson, der natürlich eigentlich anders heißt. Irgendjemand muss das Wahlgeheimnis ja ernst nehmen.
Draußen vor dem Wahllokal kam ihm der Gedanke, dass er es genauso hätte machen müssen: einfach einen Sozen-Wahlzettel vor den Stapel der Schwedendemokraten legen. Wie ernst er das wohl meinte? Aber dass er am nächsten Tag herzlich über den schlechten Wahlausgang für die rechtsextreme Partei lachte, kam jedenfalls von Herzen: „Super gelaufen für die Schwedendemokraten, ne?“. Er freute sich sehr.
Nicht, dass er das den anderen Nachbarn unter die Nase reiben würde. Inzwischen sind hier alle über einander informiert, wo sie politisch stehen. Eventuell liegt es daran, dass ich einen von ihnen korrigiert habe, als er mir erzählte, dass „wir hier ja alle Schwedendemokraten sind“ – und dabei auch auf Herrn Anderssons Haus zeigte. Das konnte ich ja nicht so stehen lassen. Jedenfalls ist das jetzt hier quasi ein Trainingscamp für Ambiguitätstoleranz. Eigentlich mag man sich. Deshalb konzentriert man sich bei Begegnungen auf die wirklich wichtigen Dinge: das Wetter, den Zustand des Schotterwegs, die Ferienpläne. Eine hämische Bemerkung zum Wahlausgang? Niemals.
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