EU-Verträge: "Man hätte es anders haben können"
Ausnahmen und Sonderregelungen bestimmen den neuen EU-Vertrag, befürchtet Europarechtler Peter-Christian Müller-Graff.
taz: Herr Müller-Graff, die ursprüngliche Verfassung war übersichtlicher und verständlicher als der Text, der in Lissabon beschlossen werden soll. Gibt es denn auch inhaltliche Unterschiede?
Peter-Christian Müller-Graff (lacht): Der Konvent hatte ja einen logisch strukturierten, übersichtlichen Text vorgelegt. Nach dem Gipfel von Lissabon wird mit Sicherheit sofort wieder das Murren losgehen, wie intransparent nun alles ist. Man hätte es anders haben können.
PETER-CHRISTIAN MÜLLER-GRAFF
ist Professor für Europarecht an der Universität Heidelberg und war als externer Berater in europarechtlichen Fragen für den EU-Konvent und den Bundestag tätig.
Und welche inhaltlichen Unterschiede gibt es nun?
Im neuen Vertrag fehlen Symbole, wie sie einem Staat zukommen - die Amtsbezeichnung Außenminister zum Beispiel. Aber es gibt auch kleine Neuerungen, der Klimaschutz wird eigens erwähnt. Vor allem aber ist der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts das erste operative Hauptziel geworden, während das im Verfassungsvertrag noch verkoppelt war mit dem Binnenmarktziel.
Was bedeutet es, wenn Briten und Iren ankündigen, sich am Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht beteiligen zu wollen?
Es kann einen in der Tat ein bisschen beunruhigen, dass wir nun ein operatives Hauptziel der Gemeinschaft haben, an das nicht alle Mitglieder in der gleichen Weise gebunden sind.
Das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist also bereits Realität?
Wenn Sie da mit der Lupe draufschauen, haben Sie in der Tat ein Element differenzierter Integration. Das hat sich aus dem Schengenraum so entwickelt.
Ein Ausschuss des britischen Unterhauses kommt zu dem Schluss, dass sich EU-Verfassung und neue Verträge praktisch nicht unterscheiden, ein Referendum also unverändert nötig ist. Ist das so?
Rechtlich ist die Substanz des Verfassungsvertrages erhalten geblieben. Politisch aber hat sich der Stellenwert geändert, weil in der Sprache und Symbolik der Rechtstexte kein Verfassungsanspruch erhoben wird, wie er einem Staat zukommen würde. Es gibt also gute Gründe für und auch gegen ein Referendum. Das kann nur innenpolitisch entschieden werden.
Im neuen Vertrag erhält die EU eine eigene Rechtspersönlichkeit. Was hat das für praktische Konsequenzen?
Dadurch bekommt die Union in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik und im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit eine eigene Verbandskompetenz. Im Binnenmarkt hatte sie die von Anfang an. Wenn im Augenblick die EU einen Vertrag mit einem Drittstaat abschließt, dann stecken in Wahrheit die 27 Mitgliedsstaaten dahinter. Künftig unterschreibt der neue Außenminister, also letztlich die EU.
Zusätzlich zu zwei neuen Verträgen haben die Rechtsexperten 25 Seiten an Zusatzerklärungen und mehr als 70 Seiten Protokolle ausformuliert. Welchen Stellenwert haben diese Rechtsdokumente?
Erklärungen sind rechtlich bedeutungslos, haben aber eine politische Dimension. Die Protokolle sind ausgelagertes Vertragsrecht, veritables Primärrecht. Dabei geht es meist um sehr spezielle Fragen, die sich schlecht in den Vertragstext integrieren lassen. Die 50 Artikel zur Währungsunion zum Beispiel behandeln so spezielle Details, dass es den eigentlichen Vertrag noch mehr zersplittern würde.
Die Briten wollen bei der Grundrechtecharta nicht mitmachen. Werden sie dadurch zu Bürgern zweiter Klasse?
Wenn es um den Schutz der britischen Bürger vor Akten der Europäischen Gemeinschaft geht, klinkt sich Großbritannien ja gar nicht aus. Die Charta bezieht sich auf europäische Gesetze und Verordnungen und darauf, wie sie auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Demnach wäre ein englisches Gesetz, das eine EU-Richtlinie umsetzt, nicht überprüfbar.
Folgender Fall wäre also denkbar: Die EU regelt die Zulassung genveränderter Organismen in einer Richtlinie. Die Abstandsregeln zwischen Genpflanzen und traditionellem Anbau überlässt sie den Mitgliedsstaaten. Ein britischer Farmer der den Sicherheitsabstand nach britischem Recht unzureichend findet und seinen Eigentumsschutz aus der Grundrechte-Charta verletzt sieht, könnte nicht klagen. Der deutsche Bauer aber schon.
Das ist ein schönes Fallbeispiel. Sobald der nationale Gesetzgeber ins Spiel kommt, klinkt sich Großbritannien aus.
INTERVIEW: DANIELA WEINGÄRTNER
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