EU-Konferenz: Und plötzlich reden die Bürger
Wie soll es mit der EU weitergehen? 400 EU-Bürger - zufällig ausgewählt, aus allen Ländern und Schichten - diskutierten in Brüssel über diese Fragen. Mit erstaunlichen Ergebnissen.
BRÜSSEL taz Der junge Mann am Telefon sagte, er sei vom Meinungsforschungsinstitut Emnid. Es gehe um die Europäische Union, ob sie eine halbe Stunde Zeit habe? Gudrun Wachsmuth aus Köthen, seit 25 Jahren Krankenschwester und seit 18 Jahren Single-Mutter, dachte sich: Warum nicht? Also ließ sie den Interviewer weiterfragen: Wie sie die Mitgliedschaft in der EU bewerte? Ob ihr Arbeitsplatzsicherheit wichtiger sei oder berufliche Mobilität? Oder wer ihrer Ansicht nach mehr für Entwicklungshilfe ausgebe, die USA oder die Europäische Union? "Aber als er am Ende fragte, ob ich bereit wäre, für ein Wochenende nach Brüssel zu kommen und mit anderen Europäern über diese Themen zu reden, dachte ich: Der will dir bestimmt ooch wieder nur n Teppich verkoofen."
Die gleiche Einladung erhielt der 19-jährige Schüler Tadeas Rina aus Tschechien. Anfangs hielt er das für einen Scherz. Doch im Internet fand er die Telefonnummer des Europäischen Parlaments in Brüssel und erfuhr dort, dass es die Agentur Tomorrows Europe wirklich gibt. Sie wurde eigens dafür gegründet, die erste europaweite "deliberative Meinungsumfrage" durchzuführen. 400 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Europäer aus allen Mitgliedsländern, Altersgruppen und sozialen Schichten wurden beteiligt. Auf ihrem Gipfel in Lissabon wird an diesem Wochenende den europäischen Staats- und Regierungschefs das Ergebnis präsentiert. Es soll deutlich machen, was dabei herauskommt, wenn europäische Bürger gemeinsam nachdenken.
Spät am Freitagabend sitzen Robert Mardsen (58) und Maria Assunta Theuma (54) todmüde auf einer schwarzen Kunstlederbank in der leeren Vorhalle des Europäischen Parlaments und kreuzen Antworten an. Das Flugzeug des 58-jährigen britischen Ingenieurs hatte Verspätung. Daher kam er gleichzeitig mit der 54-jährigen Hausfrau aus Malta an, die ihren Anschlussflug verpasst hatte. Beide haben eine gemeinsame Sprache, Englisch, und sind derselben Arbeitsgruppe zugeteilt. Das schafft in der fremden Umgebung genug Heimatgefühl, um sie für die nächsten zweieinhalb Tage unzertrennlich zu machen.
Drei Stunden zuvor glich die Eingangshalle, in der nur noch ein paar Sicherheitsbeamte sind, einem Bienenstock. 400 Gäste aus 27 Nationen mussten in 20 Arbeitsgruppen aufgeteilt und von den jeweiligen Gruppenbetreuern in die Arbeitsräume geleitet werden. Diese Aufteilung dürfte den Statistikern einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. Denn die Zusammensetzung sollte bunt gemischt sein, aber nicht zu viele Dolmetscher erforderlich machen. In Gudrun Wachsmuths Gruppe sind viele Deutsche, dazu fünf der eingeladenen elf Ungarn und ein paar Österreicher.
"Kann mir vielleicht jemand erklären, warum die uns nur mit Ungarn zusammensperren?", fragt eine ältere, ziemlich ausladende und mit Klunkern behängte Österreicherin leicht gereizt. "Die Zeiten der Donaumonarchie san nämlich vorbei!" Die junge ungarische Moderatorin der Gruppe 3 erklärt in makellosem Deutsch, dass es unbezahlbar wäre und immense Gebäude erfordern würde, wollte man in allen 20 Arbeitsgruppen alle Nationalitäten miteinander per Dolmetscher ins Gespräch bringen. 24 Stunden später, nach einer erholsamen Nacht im Hotel, einer weiteren Gruppensitzung und einer Plenardebatte zum Thema Jobs und Pensionen, sind derlei Bedenken überwunden.
"Nur unsere beiden deutschen Professoren machen uns manchmal Kummer. Die sind ein bisschen von sich eingenommen", sagt die rothaarige Gudrun Wachsmuth mit dem wirbeligen Haarknoten lachend. Vom Chef einer Düsseldorfer Werbeagentur musste sie sich sagen lassen, dass er es "zum Kotzen" finde, wenn sie Polen als Ausländer bezeichne. Sie quittiert das mit einem Achselzucken. "Ich verdiene 1.500 Euro netto im Monat, im Dreischichtbetrieb, da sind Wochenendzuschläge schon drin. Unsere besten Ärzte gehen nach Dänemark, die Schwestern in die Schweiz. Dafür arbeiten bei uns Ausländer, die sprachlich kaum zu verstehen sind. Da muss sich jedes Land selber schützen, Europäische Union hin oder her!"
Beim Thema Jobs und Renten prallen in den Arbeitsgruppen zwei Lebenswelten aufeinander. Maria Assunta Theuma findet, dass man das Renteneintrittsalter davon abhängig machen sollte, wie lange jemand gearbeitet hat. Seit seinem zwölften Lebensjahr reinigt ihr Mann die Swimmingpools anderer Leute. Für Gudrun Wachsmuth wird schnell klar, dass sie mit einer Krankenschwester aus Ungarn viel mehr gemeinsame Erfahrungen teilt als mit einem Hochschulprofessor aus Jena oder einem Unternehmer aus Stuttgart. Der Riss verläuft nicht entlang nationaler Grenzen, sondern zwischen denen, die erfolgreich selbständig arbeiten und soziale Netze für eher überflüssig halten, und jenen, die auf den Schutz sozialer Sicherungssysteme angewiesen sind.
In Gruppe 3 sind die erfolgreichen Freiberufler und die gut abgesicherten Beamten in der Überzahl. Während die Selbständigen die Lohnnebenkosten senken wollen, vertrauen die Beamten auf Bildung, um die EU fit für den Wettbewerb zu machen. Gudrun Wachsmuth lässt sich von den flotten Sprüchen nicht einschüchtern. Am Ende wird sie ausgewählt, die gemeinsame Frage aus der ersten Gesprächsrunde im Plenum den Experten vorzutragen.
"Güdrün Wacka-Schmitt", ruft der französische Moderator ins Halbrund des Plenarsaals, und die Köthenerin tritt an das Pult, an dem sonst Abgeordnete und Ministerpräsidenten ihre Ansichten äußern. Mit ruhiger Stimme sagt sie: "Meine Gruppe, die aus Österreichern, Ungarn und Deutschen besteht, möchte die Experten folgendes fragen: Was kann die Europäische Union tun, damit sich Löhne und Lebensverhältnisse so angleichen, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt dort verdienen können, wo sie zu Hause sind?"
Die Europäische Union, das macht der französische Ökonomieprofessor auf dem Podium in seiner Antwort ebenso klar wie der Vertreter des Europäischen Gewerkschaftsbundes, kann in diesen Bereichen recht wenig tun. Die Kompetenz in der Sozialgesetzgebung liegt bei den Mitgliedstaaten. Die 400 Zuhörer quittieren das mit unwilligem Gemurmel. Gerade einmal 24 Stunden sind die Gäste in Brüssel und wollen schon - das machen die Fragen und Forderungen deutlich - der Europäischen Union am liebsten viele neue Zuständigkeiten übertragen.
In der Pause werden die Debatten auf den Gängen, vor den Kaffeetischen, in den Arbeitsräumen fortgeführt. "Hier entsteht eine ungeheure positive Energie", sagt Gudrun Wachsmuth, als sie im Abgeordnetenrestaurant in der langen Schlange für das Mittagessen steht. "Meine Kolleginnen haben mich für verrückt erklärt, dass ich mir an meinem kostbaren freien Wochenende so was antue. Klar, auf der Couch, mit meinem Hund, wäre es gemütlich gewesen. Aber das hier ist besser."
Da kann ihr Manfred Ludwig, der emeritierte Professor aus Jena, nur zustimmen. "Ich hätte niemals gedacht, dass ich hier so etwas Schönes erlebe. Wir holen uns ein Stück Demokratie zurück, erleben Demos in des Wortes ursprünglicher Bedeutung. Stellen Sie sich nur vor: Ich habe mit einem Baggerfahrer aus Schottland gesprochen. Das zeigt, dass hier wirklich der Querschnitt der Bevölkerung vertreten ist."
Natürlich findet die Auswahl nach dem Zufallsprinzip ihre Grenzen, wo Menschen den Gedankenaustausch verweigern. Wer am Telefon keine Fragen zu Europa beantworten wollte oder sich nicht traute, mutterseelenallein die weite Reise zum fremden Planeten EU anzutreten, konnte bei der Auswahl nicht berücksichtigt werden. So erklärt es sich, dass bei der ersten Telefonumfrage nur jeder fünfte Befragte einen Universitätsabschluss hatte, bei dem Treffen in Brüssel aber jeder dritte. Die Moderatoren müssen dafür sorgen, dass auch weniger wortgewandte Teilnehmer ihre Ideen vortragen können.
Tamara brauchte mehrere Stunden, bis sie Mustafa und Vladislav aus der Reserve gelockt hatte. Ihre Gruppe besteht, vereinfacht gesagt, aus bulgarischen Hilfsarbeitern und deutschen Akademikern. Der 23-jährige türkischstämmige Installateur Mustafa und der 18-jährige Vladislav, der auf einem Golfplatz arbeitet, hängen an ihr wie die Küken an der Entenmutter. Auf die Toilette gehen sie nur gemeinsam und nicht, ohne vorher Tamara um Erlaubnis zu fragen. "Am ersten Tag sagten sie, Renten seien ihnen egal, für das Thema seien sie zu jung. Jetzt sind sie wütend, weil ihre Frage an den bulgarischen Ministerpräsidenten nicht mehr drangekommen ist", sagt die junge Soziologin stolz. "Die Deutschen haben zugunsten der Bulgaren auf eine eigene Frage verzichtet. In meiner Gruppe haben sich sehr anrührende Szenen abgespielt."
Beim Abschlussplenum macht sich der bulgarische Ministerpräsident Sergei Stanischew, der den Standpunkt des Ministerrates vertreten muss, nicht gerade beliebt. Die Menge will mehr Europa, mehr Demokratie, weniger nationale Engstirnigkeit. Wenn er in ausweichenden Politikersprech verfällt, schlagen Mustafa, Maria Assunta, Professor Ludwig und die anderen zornig mit der flachen Hand auf die Pulte.
Ihr Held heißt heute Jens-Peter Bonde. "Holt die Gesetzgebung hinter verschlossenen Türen hervor! Lasst die Menschen entscheiden - im Europaparlament, in den nationalen Parlamenten, aber nicht im Ministerrat!", ruft der dänische Abgeordnete mit seiner knorzigen Stimme der Menge zu. Die Menschen jubeln. Und Tamara sagt: "Etwas Wundervolles hat hier begonnen. Und ich durfte dabei sein."
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