EU-Haftbefehl im Praxistest: Mein Recht, dein Recht
Der EU-Haftbefehl existiert theoretisch seit vier Jahren. Unterschiedliche Wertesysteme machen die Auslieferung eines Staatsbürgers alles andere als einfach.
TRIER/BRÜSSEL taz Die Anekdote von dem Mann, der eine Spindtüre in einer polnischen Sportanlage zertrümmerte, erzählt Paul Fuller besonders gern. Mit seinem silbrigen Bürstenschnitt und dem braungebrannten zähen Gesicht könnte Fuller in jedem britischen Krimi auftreten. Doch der Detective Inspector von Scotland Yard ist Ermittler im richtigen Leben - auch wenn seine Geschichten ziemlich surreal klingen. Der Spindzertrümmerer von Polen hielt sich einige Monate später in Großbritannien auf. Deshalb schickten die polnischen Kollegen einen Europäischen Haftbefehl. An dieser Stelle der Geschichte macht Paul Fuller gern eine Kunstpause und blinzelt seinen Zuhörern zu. "Bei der Befragung des Mannes stellte sich heraus: Er war Schreiner und hatte den Auftrag gehabt, den Spind zu reparieren."
Fuller liebt es, solche Storys zu erzählen. Beim Seminar der Europäischen Rechtsakademie in Trier kommt er auf seine Kosten. Siebzig Richter, Ermittler, Staatsanwälte und Wissenschaftler diskutieren hier zwei Tage lang über ihre Erfahrungen mit dem Europäischen Haftbefehl (EAW). Theoretisch müsste er seit vier Jahren in allen Mitgliedsstaaten gelten und die Verfolgung und Auslieferung von Verdächtigen in einem Europa ohne Grenzen erleichtern. Doch in einigen Mitgliedstaaten ist der EAW bis heute nicht regelkonform umgesetzt.
Da in Fragen der justiziellen Zusammenarbeit die nationalen Empfindlichkeiten noch immer groß sind, konnten sich die Justizminister nicht auf eine Verordnung oder Richtlinie, sondern nur auf den weniger verbindlichen Rahmenbeschluss einigen. Im Konfliktfall hat der Europäische Gerichtshof das letzte Wort. Er muss aber der Tatsache Rechnung tragen, dass die Rechtstraditionen von Land zu Land sehr unterschiedlich sind.
Der italienische Generalstaatsanwalt Eugenio Selvaggi formulierte dieses Problem in Trier besonders griffig. "In der EU ist es leichter, sich über Standards für eine Käsesorte zu einigen als über das angemessene Strafmaß für ein Vergehen. In Polen gibt es für Vergewaltigung drei Monate, für einen Handydiebstahl dagegen auch gern mal drei Jahre. Für einen Richter ist es psychologisch ungeheuer schwierig, jemanden auszuliefern, der im eigenen Land eine deutlich geringere Strafe zu erwarten hätte."
Der schwedische Kriminalfachmann Hakan Friman ergänzt: "Wir liefern keine polnischen Staatsbürgerinnen aus, die für eine Abtreibung zu uns gekommen sind. Das ist in Schweden nicht strafbar!"
Diese Beispiele zeigen, dass es häufig knirscht, wenn ein Beschuldigter von einem Rechtssystem in ein anderes überstellt werden soll. Vor allem an den polnischen Strafgesetzen und dem ihnen zugrunde liegenden Wertesystem scheinen sich viele Juristen aus anderen Mitgliedsstaaten zu reiben. Noch schwieriger wird es, wenn eigene Staatsbürger einem anderen Rechtssystem auszuliefern sind und dieses für weniger rechtsstaatlich gehalten wird als das eigene.
2006 machten polnische Anfragen für Überstellungen 2.421 der insgesamt knapp 7.000 EAWs aus. Nur in 235 Fällen wurden die Gesuchten am Ende tatsächlich nach Polen ausgeliefert. 2.186 Anfragen aber wurden von den zuständigen Behörden in anderen EU-Ländern abgelehnt. Entweder hielt sich der Gesuchte gar nicht in dem Land auf, das die Anfrage erhielt, oder das Vergehen war dort nicht strafbar, zu geringfügig oder verjährt. Oft war auch das Formular nicht richtig ausgefüllt worden oder die Übersetzung unverständlich. 2.186 zusätzliche Aktenvorgänge wurden angelegt, Verdächtige aufgespürt, befragt, Formulare geprüft, über unscharf übersetzte juristische Begriffe gerätselt, schließlich 2.186-mal ein abschlägiger Brief nach Polen geschickt.
"Der Europäische Haftbefehl ist eine prima Sache", ist Paul Fuller überzeugt. "Aber dieser polnische Übereifer verstopft das ganze System und erzeugt hohe Kosten." Der polnische Polizist Maciej Nawrocki teilt den Ärger des Detective Inspector über die 43 polnischen Kreisgerichte, die für die EAWs zuständig sind. "Unsere Provinzgerichte stellen ganz routinemäßig die Haftbefehle aus. Für den Staatsanwalt ist das nur ein kleines Formular und ein Knopfdruck auf dem Computer. Doch die Kosten für die Überführung des Verdächtigen, für den Transport und die Unterkunft der begleitenden Polizeibeamten trägt die polnische Polizei, nicht die Justiz. 2006 hat das beinah unser Budget gesprengt!" Der dickliche Mann kommt richtig ins Schwitzen, als er endlich einmal seinen Ärger über die polnischen Gerichte loswird.
Anna Adamiak, die Direktorin des Büros für Internationale Zusammenarbeit im polnischen Justizministerium, kann die Aufregung dagegen überhaupt nicht verstehen. Zum einen seien eben viele Polen derzeit im europäischen Ausland beschäftigt. Das mache mehr europäische Haftbefehle erforderlich als bei einer bodenständigen Bevölkerung, erklärt die kühle Blondine. Zum Zweiten sei der Rahmenbeschluss zum Haftbefehl in Polen anders umgesetzt als in Großbritannien. "Wir haben nicht das Proportionalitätsprinzip, sondern das Legalitätsprinzip", sagt sie achselzuckend. Einfacher gesagt: Jede Straftat, die in Polen mit einer Strafandrohung belegt ist, muss auch im Ausland verfolgt werden - ganz egal, ob der Aufwand zum Ergebnis in einem Verhältnis steht.
"Wir würden uns von der EU-Kommission Leitlinien wünschen, damit unser Gesetzgeber genötigt wäre, die Umsetzung des Rahmenbeschlusses in polnisches Recht zu ändern", räumt Anna Adamiak ein.
Václav Klaus war dagegen
Anna Adamiak und Paul Fuller kennen sich bislang bestenfalls von der Unterschrift auf einem Formular. Wenn sie sich nun im lichtdurchfluteten Tagungsraum der Europäischen Rechtsakademie in Trier gegenübersitzen, wächst das Verständnis für die rechtlichen Rahmenbedingungen im jeweils anderen Land. Auch die tschechische Oberstaatsanwältin Jaroslava Novotná klagt, der europäische Rahmenbeschluss zum Haftbefehl sei in ihrem Land nicht korrekt umgesetzt worden. "Tschechische Staatsbürger liefern wir nur aus, wenn das Verbrechen nach 2004 begangen wurde und auch bei uns strafbar ist", erklärt sie. "Aber die konservative Parlamentsmehrheit weigert sich, das Ausführungsgesetz zu ändern!"
Das tschechische Gesetz beschränkt die europäische Justizzusammenarbeit auf das strikte Minimum, das der Rahmenbeschluss verlangt. Dennoch hatte der EU-skeptische tschechische Staatspräsident Václav Klaus im August 2004 seine Unterschrift verweigert. Auf seiner Homepage hatte er damals erklärt, es könne nicht angehen, dass Tschechen in anderen EU-Staaten für Taten belangt werden könnten, die in Tschechien nicht strafbar seien. Über das ursprüngliche Ziel der Terrorismusbekämpfung schieße der Rahmenbeschluss weit hinaus. Verbrechen wie Betrug, Raub oder Vergewaltigung seien schließlich früher auch bekämpft worden, ohne dass ein europäischer Haftbefehl gebraucht worden wäre. Das Gesetz trat dann aber doch in Kraft, da die Mehrheit der Abgeordneten das Veto des Präsidenten außer Kraft setzen konnte.
SS-Mann darf bleiben
Auch in Deutschland gab es mit der Umsetzung in nationales Recht Probleme. Erst im Sommer 2004, sechs Monate später als im Rahmenbeschluss vorgeschrieben, trat das entsprechende Gesetz in Kraft. Ein Jahr später wurde es vom Bundesverfassungsgericht kassiert, da nach Ansicht der Richter die "grundrechtsschonenden" Möglichkeiten des Rahmenbeschlusses vom deutschen Gesetzgeber nicht ausgeschöpft worden waren. Die Richter verlangten, dass deutsche Staatsbürger besser gegen Auslieferungsbegehren anderer Staaten geschützt werden müssten und dass eine Einspruchsmöglichkeit gegen die Auslieferung geschaffen werden müsse.
Daraufhin wurde das deutsche Gesetz neu formuliert und trat in veränderter Form erst im Juli 2006 in Kraft. Es enthält nun Ausnahmen, bei denen die Auslieferung Deutscher in andere EU-Staaten unter bestimmten Bedingungen abgelehnt werden kann.
Anfang 2007 berief sich ein Münchner Gericht auf diese Einschränkungen, als es die Auslieferung des ehemaligen SS-Angehörigen Sören Kam nach Dänemark ablehnte. Die dem Mann dort zur Last gelegte Tat sei nach deutschem Rechtsverständnis kein Mord, sondern Totschlag und damit verjährt. Ein Sprecher der EU-Kommission erklärte damals, da das deutsche Gesetz nicht auf einer Richtlinie, sondern auf einem Rahmenbeschluss beruhe, habe die EU-Kommission auf die nationale Umsetzung keinen Einfluss.
Nach zwei Tagen im kulturellen Schmelztiegel eines Seminars und nach einigen Flaschen Moselwein wollen sich Europas Juristen damit nicht mehr zufriedengeben. Sie verlangen eine Handreichung aus Brüssel, die ihre Parlamente dazu zwingt, die Justizzusammenarbeit unkomplizierter und vertrauensvoller zu gestalten. Doch das letzte Wort in dieser Frage hat nicht die Kommission, sondern die Regierungen. Und die sind noch längst nicht so weit wie ihre europäisch denkenden Rechtsexperten.
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