ESSAY: Zeitenwende
■ Vom endgültigen Ende des Großreiches Sowjetunion
Das Ende der Sowjetunion wurde zwar jetzt offiziell verkündet, aber am Ende war sie schon vorher. Der Putsch hatte ihr bereits den letzten Stoß versetzt. Schließlich war es die Absicht der Putschisten gewesen, die Unterzeichnung des damals noch vorgesehenen neuen Unionsvertrages zu torpedieren, um gegen ihn die Union zu retten. Nach dem Putsch zogen die Präsidenten der ehemaligen Unionsrepubliken Stück für Stück die Macht an sich, soweit sie es nicht schon zuvor getan hatten. Neuer Großfürst des zerfallenden Reiches war Boris Jelzin schon deshalb, weil er mit Rußland den größten Staat der Erde regiert — zumindest solange, bis auch der zerfällt.
Daß sich die Ukraine, Rußland und Weißrußland nun zusammenfanden, könnte Indiz dafür sein, daß wieder mehr über die Wirtschaft und weniger über nationale Unabhängigkeit geredet wird. Aber die zentrifugalen Kräfte bleiben. Zu Ende geht jetzt mehr als die Sowjetunion, zu Ende geht ein jahrhundertelanger Abschnitt der russischen Geschichte. Nach dem Untergang der Kiewer Rus im Jahre 1240, die nach national-ukrainischer Auffassung mit Rußland nichts zu tun hat, war das Moskauer Fürstentum, aus dem Rußland entstand, ein beständig expandierendes Gebilde gewesen. Fast zwangsläufige Folge dieser Expansion war der Anspruch auf Weltherrschaft, der sich mit der osmanischen Eroberung Konstantinopels 1453 erfüllte: Der Moskauer Metropolit wurde in der folgenden Zeit Patriarch, der Großfürst „Zar“ (Cäsar), und Moskau zum „Dritten Rom“, also zum welthistorisch letzten.
Ganz in der byzantinischen, theokratischen Tradition wurde das Verhältnis von Kirche und Herrscher gestaltet. Orthodoxie, Prawoslawije, heißt Rechtgläubigkeit, und die wurde in Moskau gehütet. Wer gegen den Zaren aufstand, der opponierte gegen die Wahrheit und das Recht. Diese Konstellation wurde nur kurz in der Revolutionszeit unterbrochen. Bis Gorbatschow verfügte der jeweilige Generalsekretär der KPdSU im Rahmen seines Konsistoriums, des Politbüros, nicht nur über die höchste weltliche Macht, er war auch die höchste Autorität in weltanschaulichen Dingen.
Expansion und Weltherrschaftsanspruch mußten mit dem Entstehen des Nationalismus im 19. Jahrhundert umformuliert werden. Aber die damaligen russischen Nationalisten konnten auf eine russische Sonderrolle verweisen — es habe eine Mission als Kulturbringer und Kolonisator. Die beständige Expansion wurde Teil der nationalen Selbstdefinition. Das russische Volk galt als Schirmherr und älterer Bruder der anderen Völker des Reiches.
Aber auch in anderen Nationen Rußlands faßte der nationale Gedanke Wurzeln. Das russisch dominierte multinationale Reich erschien wie das osmanische oder das österreichisch-ungarische Reich als „Völkergefängnis“, das schleunigst abgerissen werden mußte. Nur so konnten die unterjochten Nationen Wohlstand und Selbstbestimmmung erlangen. Der sich ausbreitende Nationalismus wirkte wie in den anderen Großreichen — sprengend. Zunächst bedeutete die Oktoberrevolution den Zerfall des Reiches. Was übrigblieb, Sowjetrußland, entspricht der heutigen RSFSR.
Dieser Staat ist in seinen heutigen Grenzen also noch das Resultat der Sezessionen nach der Oktoberrevolution. Was in der folgenden Zeit zurückkam, wurde nicht mehr „Rußland“ angeschlossen, sondern gehörte ab 1922 zu dem fiktiven Staatenbund und tatsächlichen Zentralstaat UdSSR. Keine der späteren Sowjetrepubliken kam freiwillig in den Zusammenhang des alten russischen Reiches zurück: mit dem Ende des Bürgerkrieges gehörte zur Sowjetunion Mittelasien, das in Nationalstaaten neu aufgeteilt wurde, Transkaukasien, die Ukraine und der östliche Teil Belorußlands. Der Hitler- Stalin-Pakt brachte das ehemalige russische Baltikum, das westliche Weißrußland und Bessarabien zurück. Neu erwarb die Sowjetunion die Nordbukowina und Galizien, die heutige Westukraine, mit ihrer mächtigen nationalen Bewegung — für die Sowjetunion ein Danaergeschenk.
Die sowjetische Zeit bewahrte nicht nur den wesentlichen territorialen Bestand des russischen Reiches, es behielt in leicht veränderter Formulierung viele der globalen Ansprüche des Zarenreiches. Moskau war spätestens seit Stalin die Hauptstadt einer Völkergemeinschaft unter brüderlicher russischer Obhut. Zugleich war es Hauptstadt der kommunistischen Weltbewegung, die einst die ganze Welt erobern sollte. Wenn die Weltrevolution auch in den frühen zwanziger Jahren nicht mehr zu den aktuellen politischen Prioritäten gehörte, die KPdSU bzw. ihre Führungsgremien begründeten in ihr einen globalen Führungsanspruch. Die Abspaltung von Titos Jugoslawien oder Maos China hatte daher die Bedeutung wie früher ein Kirchenschisma.
Es war immerhin allein der Marxismus-Leninismus, der das russische Vielvölkerland noch einmal stabilisieren konnte. Sein Untergang bedeutete das Ende der Legitimität des Großreiches und damit eine Schwächung der Möglichkeit, zu seiner Erhaltung Gewalt einzusetzen. Das einzige Argument, das es für einen Fortbestand der Union künftig noch hätte geben können, wäre wirtschaftliche Vernunft gewesen. Aber keine wirtschaftliche Vernunft kann sich mit identitätsstiftenden Symbolen an Überzeugungskraft messen.
Das jetzige Koordinierungsabkommen zwischen Rußland, Weißrußland und der Ukraine betont die Souveränität der vertragsschließenden Parteien. Es bedeutet aber zugleich auch mehr. Denn es stellt zumindest symbolisch einen ostslawischen historischen Zusammenhang her. Sicherlich sind die ukrainischen und weißrussischen Ansprüche darauf, eigene Nationen zu sein, so berechtigt wie irgendwelche anderen: Weißrußland befand sich vor seinem Anschluß an Rußland jahrhundertelang unter litauischer und polnischer Herrschaft. Das gleiche galt für den größten Teil der Ukraine. Weißrußland und die Ukraine sind daher „westlicher“ gewesen als das Moskauer Reich. Gleichwohl aber sind sie Teil der ostslawischen Kultur. Ihre nationale Benachteiligung war nicht mit der anderer Nationen der Sowjetunion zu vergleichen; weitgehender war auch die russische Assimilation.
Gerade die kulturelle Nähe kann aber die Betonung der Unterschiede verstärken — und damit auch die Unterschiede selbst. Denn Differenzierungsprozesse haben ihre eigene Dynamik. Wo sie in Gang gesetzt wurden, verstärken sie sich selbstläufig; trotz aller guten Absichten sind sie meist nicht mehr kontrollierbar. Obwohl — mit Ausnahme der Westukraine — der russisch-ukrainische Gegensatz oder der weißrussische nicht sehr spürbar wurde, obwohl das neue Nationalitätengesetz der Ukraine ein Musterbeispiel für Toleranz und Minoritätenschutz verkörpert, ist es daher unwahrscheinlich, daß die Situation so friedlich wie bisher bleibt. Das aus dem Baltikum oder Transkaukasien vertraute Argumentationsmuster wirkt bereits: Nicht der Sozialismus oder andere Struktureigentümlichkeiten sind an der gegenwärtigen Misere schuld, sondern die Russen. Jedes Erdbeben, jeder Hagelschlag, macht gewalttätige Auseinandersetzungen wahrscheinlicher, sobald dieses Argumentationsmuster von der Bevölkerung übernommen wird.
Gorbatschows Abschiedsspruch wird bald zu schreiben sein. Seine Stärken — Vernunft und Kompromißfähigkeit, waren auch seine Schwächen. Vernunft, Verantwortungsbewußtsein und Kompromißfähigkeit können sich nur innerhalb stabiler Institutionen entfalten. Wo die politischen Strukturen zerbrechen, setzen sich allemal jene durch, die mit ihren Reden die Massen elektrisieren können. Vielleicht sind sie es, die nach dem Ende der alten Geschichte Rußlands eine neue mit noch unbekannten politischen Strukturen und Denkmöglichkeiten inaugurieren. Man soll doch auch optimistisch sein. Erhard Stölting
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen