ESSAY: Ein Amerikaner in Paris
■ Über die Zählebigkeit nationaler Unterschiede im westlichen Europa
Laut Kalender schrieben wir den 28. Februar und nach meinem zerknitterten Reiseplan mußte ich mich in Italien aufhalten. Richtig! Wenn ich die Vorhänge meines Hotelzimmers zurückzog, war der Dom von Mailand zu sehen. Er hatte tags zuvor den Ausblick auf die Kanäle ersetzt, den ich von meinem Hotelzimmer aus in Amsterdam gehabt hatte.
Ich war auf einer Vorstellungstour für mein neues Buch in Europa unterwegs — fünf Länder in drei Wochen. Ich hatte über den weltweiten Siegeszug der liberalen Demokratie als Regierungsform geschrieben und darüber, wie die verschiedenen Staaten sich jetzt, „am Ende der Geschichte“, immer mehr glichen. Der Nationalismus, so argumentierte ich, mag „drüben“, in der ehemals kommunistischen Welt, stark sein. Im Westen, so meinte ich, hat sich seine Kraft erschöpft.
Aber überall auf meiner Reise war ich überrascht, daß die nationalen Unterschiede in Europa nicht nur tief verwurzelt sind, sondern sogar noch laufend zunehmen. Ein Kritiker meines Buchs, ein Engländer, zitierte eine Passage und kommentierte dann, daß „nur ein französischer ,rive gauche‘-Intellektueller so etwas glauben kann“. Ein anderer Kritiker, ein Amerikaner, glaubte in meinem Buch „eine Aura deutschen Tiefsinns“ entdeckt zu haben, der er mißtrauen zu müssen glaubte. In Frankreich und Deutschland wurde ich als „typischer Amerikaner“ angegriffen, weil ich darauf bestanden habe, daß es so etwas wie Fortschritt in der Geschichte gibt — dies trotz der Tatsache, daß meine Arbeit hauptsächlich von einem Deutschen (Hegel), einem Franzosen (de Tocqueville) und einem Franko- Russen (Alexandre Kojeve) inspiriert worden ist.
Es gibt viele Anzeichen dafür, daß trotz Maastricht die Europäer, statt sich anzunähern, auseinanderdriften. Ein französischer Verleger erzählte mir auf dem Weg zum Flughafen, daß immer weniger zeitgenössische deutsche Werke in Frankreich herausgebracht würden. Viele Franzosen wollten nichts über ihre Nachbarn jenseits des Rheins wissen — aus Angst davor, was sie vielleicht herausfinden würden. Ein deutscher Verlagsmensch bestätigte, daß weniger deutsche Bücher ins Französische übersetzt würden und sein holländischer Kollege sprach von der wachsenden Inselmentalität der Deutschen. Sie seien vollständig von den in der Tat einzigartigen Problemen ihrer Vereinigung absorbiert.
Ein anderer Deutscher, ein bekannter Fernsehkommentator, schüttelte bedenklich den Kopf und sprach dann davon, daß es trotz der fortgeschrittenen Kommunikationstechniken, mit deren Hilfe Leute ins Wohnzimmer beliebiger anderer Leute transportiert werden könnten, einen wachsenden Provinzialismus der intellektuellen Traditionen gebe.
Oberflächlich betrachtet gibt es Bereiche, in denen die Europäer kulturell näher aneinander gerückt sind. Italiener, Franzosen, Holländer und Engländer sehen allesamt zu, welches Ende Arnold Schwarzenegger seinen Feinden bereitet. Sie schlendern wechselseitig durch ihre Städte und bereichern ihre Kenntnisse fremder Kochkunst. Aber die Ausbreitung der Demokratie in Europa hat jene aristokratische Kultur unterminiert, innerhalb derer europäische Philosophen, Schriftsteller und Künstler sich leichtfüßig bewegten. Von Land zu Land und von Sprache zu Sprache. Das Wachstum des Englischen als jedermanns Zweitsprache ist zwar eine Grundbedingung des modernen Geschäftslebens. Aber dieses Wachstum gefährdet gleichzeitig jene grundlegenden Elemente des intellektuellen Erbes, die (unglücklicherweise) nicht in englischer Sprache niedergelgt worden sind.
Für mich war es schlagend zu sehen, wie unterschiedliche intellektuelle Traditionen sich in politischen Differenzen niederschlugen. Nur in Deutschland hörte ich Umweltschützer argumentieren, man müsse vielleicht Abstriche an der Demokratie machen, um die Erde zu retten. Eine österreichische Journalistin nannte mich provinziell. „Für uns Europäer“, so sagte sie mir, „ist der freie Markt ein überholtes Konzept — es muß dem sozial verfaßten Markt weichen“. Sie ist es, die provinziell denkt, dachte ich mir und fragte sie, ob sie in letzter Zeit Budapest, Moskau, Peking oder Singapur besucht hätte.
Auf meiner Reise durch Deutschland habe ich keinen einzigen Deutschen getroffen, der nicht entrüstet gewesen wäre über den Angriffskrieg gegen Kroatien und der nicht die internationale Anerkennung dieses Landes gefordert hätte. Andererseits warte ich immer noch darauf, einen Franzosen kennenzulernen, der nicht von den finsteren Machinationen der Deutschen auf dem Balkan überzeugt wäre. Was mich betroffen machte, war nicht der Unterschied in den politischen Positionen (ich selbst tendiere dazu, die deutsche zu unterstützen), sondern das sich selbst ständig erneuernde Mißtrauen bezüglich der Motive der jeweils anderen Seite. Ein Deutscher sagte mir: „Wenn schon ein kleineres Problem wie Kroatien uns so gegeneinander aufbringt, was soll denn dann geschehen, wenn es wirklich um etwas Großes geht?“
Der Golfkrieg ist ein weiteres, bemerkenswertes Beispiel für diese Differenzen. Wenn eine militärische Tradition buchstäblich aus einem Volk herausgebombt worden ist, hat das natürlich Rückwirkungen auf die nationale Psyche. Deutschland zahlte ebenso wie Japan jede Menge Geld für die militärische Intervention am Golf, aber selbst die Konservativen konnten keinerlei Enthusiasmus für den Krieg aufbringen. Ein Deutscher erzählte mir, er habe sich nie in seinem Leben den USA so fremd gefühlt wie in dem Augenblick, als er vor einem Jahr New York besuchte und die Kriegsbegeisterung dort erlebte. Die Stimmung hätte nicht unterschiedlicher sein können, als ich auf dem Höhepunkt der Kämpfe England besuchte und von ein paar einflußreichen britischen Journalisten belehrt wurde: Wenn die USA nicht bereit seien, zehntausend Gefallene auf sich zu nehmen, um Saddam Hussein aus dem Kuwait zu vertreiben, sollten sie als Großmacht lieber gleich abtreten.
Ich sprach mit keinem einzigen Deutschen, der daran glaubte, daß Deutschland schlußendlich die Mark für den Ecu aufgeben würde. „Wir haben“, sagte mir ein Deutscher, „keine nationale Tradition, auf die wir stolz sein könnten. Die starke DM ist unser einziger Stabilitätsanker. Als Deutsche haben wir heute in Europa Zugang zu allem, was wir kaufen möchten. Wozu dann die Währungsunion?“ Im Hinterkopf all meiner Gesprächspartner spukte die Frage der Immigration. Würde irgendein europäischer Politiker angesichts der fremdenfeindlichen Ressentiments einen stärker integrierten Arbeitsmarkt handhaben können?
Um ein Fazit zu ziehen — ich würde auch nach den Erfahrungen meiner Reise keine Zeile dessen, was ich geschrieben habe, ändern. Durch den Fall des Kommunismus ist Europa nicht ins Jahr 1914 und ins Zeitalter der explodierenden Nationalismen zurückbefördert worden, die Vorzüge des gemeinsamen Marktes sind grundlegend und unumkehrbar. Dennoch: Die Hartnäckigkeit nationaler Differenzen, die auf subtile Weise auch noch gewachsen sind, lassen mich daran zweifeln, ob die ehrgeizigen Ziele der europäischen Einheitsbewegung je erreicht werden können. Ich fragte mich, ob die Europäer selbst es nicht vorziehen, ein „Europa der Nationen“ zu bleiben. Francis Fukujama
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