ESC-Vorentscheid: Surreale Aschenputtel
Voller Anmut: Die Außenseiterinnen des Frauen-Trios von „Elaiza” gewinnen den deutschen Vorentscheidung zum Eurovision Song Contest.
KÖLN taz | Sie quietschten, sie grölten, kurz: sie waren hochbeglückt, fast schockiert, dieses Ding gewonnen zu haben. Ein wenig „surreal“ fühle es sich an, sagte Natalie, die Kontrabassistin von Elaiza: Ja, das muss es gewesen sein für diese drei Frauen, die vor einem halben Jahr auf die Idee kamen, sich via Youtube für die deutsche Vorentscheidung zum Eurovision Song Contest zu bewerben.
Wohlgemerkt: Nur für ein sogenanntes Clubkonzert, bei dem am 27. Februar neben den drei in Berlin lebenden Musikerinnen noch neun weitere Acts antraten. Allesamt nicht Teil der Champions League des deutschen Pop-Business, vielmehr halbe bis dreiviertel Amateure, die en gros kellnern, verpacken oder in Internetklitschen jobben, um ihren musikalischen Neigungen nachzugehen.
Elaiza gewann diese Show – mit einem Lied, das „Is It Right?“ heißt und atmosphärisch von Ela, der Sängerin, als „Neofolk“ bezeichnet wird. Man müsste ergänzen: Eine Art Musik, die nicht klampft, sondern echt folkig daherkommt und durchschimmern lässt, durch die Feierlaunen der Russendiskoszene gestählt worden zu sein.
So kamen sie nach Köln – und trafen auf etliche der momentanen Granden der deutschen Popmusik, auf Madeline Juno, eine Café-Latte-Chanteuse mit Sojaappeal, auf Santiano, eine Art Macker-Shanty-Schmusebär-Kaperfahrt-Band aus Schleswig-Holstein, vor allem aber auf Unheilig mit seinem Sänger Bernd Graf, der sich, was er wirklich immer weltklassemäßig konnte, richtig sentimental bei der Vorentscheidung ins Zeug legte. Ein netter, freundlicher Kerl, der Fans gut behandelt und das Gegenteil von hochnäsig ist. Er war einige Zeit der Kassenfüller seiner Plattenfirma, er setzte das Maß der ESC-Dinge in Köln.
Lampenfiebrige Herzensgüte
Und dann kamen Elaiza. Sangen in der ersten Runde „Is It Right“, waren noch etwas unsicher, kamen aber, das ist die Pointe, in die nächste Runde und waren damit allen bekannt, die ihren Sieg beim vorgeschalteten Amateur-Clubkonzert nicht gesehen hatten. Das Lied freute in der Halle vor 6.500 Zuschauer sehr: Das Publikum ging offenbar mit – und ließ die drei Frauen in Wohlgefallen per Applaus baden.
Als schließlich im Zweierfinale nur noch Elaiza und Unheilig übrig blieben, kam das alte Gesetz des Fantums zum Tragen: Wer viele Fans hat – wie der Graf mit Unheilig – erntet immer auch Opposition. Üblerweise bekam die vielleicht unglücklicherweise in Dunkel gekleideten Mannen von Unheilig auch noch Pfiffe statt Applaus – mit 55 zu 45 Prozent schließlich siegten Elaiza ziemlich deutlich: Es war ein Sieg nach dem Erzählmuster der Aschenputtel, die mit der Anmut von Unschuld und Weltvertrauen in das Schloss mit lauter giftigen Höflingen eintritt und durch lampenfiebrige Herzensgüte und unverspannter Lust am Performen alles plattmacht.
Das Publikum liebt Außenseiterinnen, die gut sind – und insofern war Elaiza ein Sieg für die Guten, die hoffentlich nun nicht glauben, dass Unheilig die Nichtguten waren. Denn das waren sie in der Tat sehr, zumal sie die Frauen von Elaiza, Bernd Graf allen voran, unentwegt kollegial belobigten. Man könnte sagen: Was den menschlichen Zuschnitt anbetrifft, war der Graf der Gewinner des Abends.
FC Bayern gegen den FSB Schiffweiler
Elaiza fahren nun nach Kopenhagen – und alle sind froh. Am erstaunlichsten ist vielleicht, dass selbst einer der renommiertesten Chronisten des Popgeschehens, der Autor Arno Frank aus Wiesbaden, twitterte: „Toll. Bin völlig begeistert. Und zwar erstmals über diese Veranstaltung. Seit ich denken kann. Großes Fernsehen, toller Song. Ein Finale wie FC Bayern gegen den FSB Schiffweiler.“ Um im nächsten Zwitscherer anzufügen: „Und Schiffweiler gewinnt.“
Ein Lob, das unbedingt auf die Moderatorin Barbara Schöneberger ausgeweitet werden muss. Die Dame kann einen Abend, der live Überraschungen parat halten kann, exzellent zum Ende bringen. Die hat Charme, die hat vor allem diese gewisse Art von Humor, die bisweilen in der ARD fehlt.
Der NDR wird, so gab es Thomas Schreiber, ARD-Unterhaltungskoordinator, zu Protokoll, das Konzept der Clubkonzerte ausbauen, also des Sammelns von Talenten über die Graswurzelbewegungen und nicht allein über die Scoutingabteilungen der Major-Plattenfirmen. Das war nicht nur eine Verneigung vor dem Votum des Publikums zugunsten von Elaiza –- sondern auch einfach klug.
Am 10. Mai wird Elaiza mit der Startnummer 6 beim Finale des Eurovision Song Contest auftreten. Eine Musikerin der Siegerinnen, Yvonne, sagte, sie habe eigentlich für jenen Abend ein Ticket für „Cirque de Soleil“. Sie muss nun zu einem anderen Zirkus – von dem sie ein Teil sein wird.
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