ERDHAUT UND REIFENSPUR

■ Papierkunst im Körnerpark Neukölln, Stück-Seife in der Galerie Horst Dietrich

Kunito Nagaoka zieht der Erde die Haut ab. Er gießt einen selbstangesetzten Papierbrei in Vertiefungen, über Steine, Wurzeln. Durch Wasser angefeuchtet und geschmeidig, paßt sich der Brei dem Untergrund an. Pflanzenfasern und Erde bleiben haften, Unebenheiten zeichnen sich als Profil in den sonnen- und luftgetrockneten Papierobjekten ab. Für Kunito Nagaoka entsteht in seinen „Erdhäutungen“ ein heilende Schicht, die sich über die Verletzungen der Landschaft legt.

Auch Nora Schmitter schafft in ihren Papierobjekten der Erde ein Gedächtnis. Aus Baumwolle, Tuch und Papier stellt sie ihr Ausgangsmaterial her, in dem sich dann Holzstückchen, Tannennadeln und andere Spuren des Waldbodens verfangen. Doch auch ohne das direkte Hineinknien in die Erde bricht in den Arbeiten der zehn Papierkünstler, die das Kunstamt Neukölln vorstellt, die gewohnte glatte Fläche des Papieres auf. Daß Papier „leer“ und ohne Bedeutung sei, bis es schwarz bedruckt, blau beschrieben oder farbig bemalt sei, erweist sich als Irrtum einer verschwenderischen und im Umgang mit ihren Ressourcen gedankenlosen Gesellschaft. Papier hat immer schon eine Vergangenheit und Geschichte. Doch indem die Künstler die vielseitige Herkunft des Papieres aus den armen Materialien Lumpen und Pflanzen und seine Formung durch die elementaren Kräfte des Wasser wieder visuell und taktil erfahren lassen, wird zugleich die Endlichkeit der Papierproduktion erkennbar. Je rauher und dichter die Strukturen des Papieres ausfallen, umso näher rückt es seinen natürlichen Ressourcen und erscheint als ursprüngliches Material.

„Handgeschöpft“: dies Zertifikat hebt nicht bloß die behutsame Arbeit der Künstler und Handwerker von der industriellen Produktion ab, sondern verleiht der Papierherstellung die romantische Aura eines ursprünglichen Schöpfungsaktes. Der kunstphilosophische Clou der Papierarbeiten ist, das Bild und Bildträger identisch sind und zwischen Medium und Message keine Differenzen bestehen. Die Formen und Muster, die bei Wilfried Gehring, in den Collagen John Gerards, den transparenten Fahnen von Andreas von Weizsäcker und den Zeichenfliesen Ulrich Wagners auftauchen, entstehen direkt im Prozeß der Papierherstellung durch die Schichtung und Verschiebung unterschiedlich gefärbter Papiermasse.

Zerbrechlich und spröde wirken die „Körper aus archäologischer Zone“, die Josephine Tabbert aus Papier formt. Auch sie nimmt Papier als der Haut verwandte Hülle wahr, die verletzbare Innenräume schützt. Dick wie Filz dagegen fühlt sich die handgeschöpfte Papierprobe John Gerards an, die dem Katalog zur Ausstellung „Innovation: Papier“ beiliegt. Sie erinnert an das früher heißgeliebte Löschpapier in Schulheften, in dem man das langsame Ausbluten der Tinte gebannt verfolgen konnte. Aufgesogen von den dicken Fasern zog sich die Flüssigkeit wie durch ein Netz von Adern durch das Papier. In einer Umgebung synthetischer Glätte gewinnen die taktilen Reize von knisterndem Packpapier und filzigen Löschblättern. Papier eignet sich in seiner Vielfalt nicht nur zum Kunstobjekt, sondern ist schon zum modischen Fetisch geworden, wie nicht zuletzt der Boom der kunstgewerblichen Papierlädchen mit Edelkladden und hundert Mark teuren Notiz- und Telefonbüchern beweist.

In einen Riech- und Tastrausch sind ansonsten gesittete Bürger auch schon angesichts des Seifensortimentes einer Drogerie verfallen. Doch die Seife als ein Material der ästhetischen Spurensicherung zu entdecken ist die Leistung des Seifenkünstlers Norbert Stück, der seine gutriechende Ware in der Galerie Horst Dietrich ausgebreitet hat.

Stück schnitzt in die Seife Reliefs. Er benutzt sie als Stempel. Er seift Papiere ein und prägt dann in ihre wächsern schimmernde Oberfläche Kreuze, Punkte und Spiralen, die an die topographische Aufnahme einer Ausgrabungsfläche erinnern können. In Seifenstücken, in die er die sich kreuzenden Linien von Weichen und Schienen hineingedrückt hat, hält er seine Erinnerung an die New Yorker Metro fest. Aneinandergereiht und auf ein Schienenstück montiert ergeben sie eine eigene Partitur, einen hüpfenden Tanz. Auch ein Autoreifen hat in New York seinen Abdruck auf der Seife hinterlassen: Stücks Projekt Suicide.

Papier, Sand, Kuchenteig, Ton, Seife, Fett... die Liste der empfänglichen und für die Konservierung von Spuren geeigneten Materialien, ob nun schon immer von der Kunst besetzt oder erst jüngst aus dem Alltag in sie überführt worden sind, erscheint endlos fortsetzbar. Stück ist durch die obsessive Hartnäckigkeit, mit der er ohne auszurutschen seinem glitschigen Material folgte, zum Seifen-Enzyklopädist geworden. Zu seinen kleineren Fundstücken zählt das Eintrittsticket zu einer „Soapopera“. Zu seinen den Seifen -Laien verblüffenden Entdeckungen gehört der erstaunliche Arbeitseinsatz der Seife auf einer Werft: Sie sorgt bei dem Stapellauf eines Schiffes für die nötige Reibungslosigkeit und Glätte und verzeichnet dabei die einzige Spur der Ozeanriesen, die von da spurenlos durch das Wasser gleiten.

Katrin Bettina Müller

„Innovation: Papier“, Galerie im Körnerpark, bis 5. März, Di bis So: 10 bis 17 Uhr. Norbert Stück in der Galerie Horst Dietrich, Giesebrechtstraße 19, bis 24. Februar, Di bis Fr: 14 bis 18.30 und Sa: 11 bis 14 Uhr.