: ENTRÜMPELTES BABY
■ „Das tatarische Volksfest“ (Karel Steigerwald) vom Theater am Geländer (Prag)
Die Bühne: Über- und nebeneinandergestellte Betten, Regale, ein Lampenschirm, Vorhänge, Kochtöpfe und Schüsseln, ein halb umgelegter Schrank - das Sammelsurium eines bedürftigen Lebens. Und doch ist man in diesem Interieur sofort wie zu Haus. Zusammengestückelt wie das Bühnenbild ist der erzählte Ausschnitt aus verschiedenen realsozialistischen Leben. Die Geschichte eines Studenten, der sich hintereinander in drei Frauen verliebt, von denen die letzte natürlich Helena heißt und der deswegen sein Studium vernachlässigt, bis er von der Uni geworfen wird, ist die Naht zwischen den vielen gleichzeitigen Vorgängen und ihrer wechselseitigen Beschränkung: ein „bewegliches Bild“, das im Programmheft als „Schauspieloper“ beschrieben wird. Während Helena im folgenden Mutter wird und nicht mehr Raum zum Leben hat als ein Bett auf halber Perspektivhöhe, so daß sie ihr Kind unter den Schnürboden hochziehen muß, stachelt ein Museumsdirektor aus Langeweile und Übermut einen Kulturbeauftragten zur Organisation eines Tatarenvolksfestes an. Als dieser tatsächlich zur Tat schreitet, versucht er die Ausführung indes zu verhindern und die Ausschmückung des Festes zu zerstören, wird an der Vergeblichkeit irre und entschließt sich, in Rente zu gehen. Damit wird sein Posten frei, den nun der Student erhält, weswegen die Familie eine größere Wohnung erhält, weswegen das Baby vom Schnürboden heruntergeholt werden kann... Dort, wo alle nicht weiterwissen, schalten sie den Fernseher ein. Und weil alle nicht weiterwissen, sind sie im Schluß-Happy-End-Bild vereint.
„Aus all dem wird klar, daß man (im Gegensatz zur Oper) während dieser Vorstellung die Geschichte nicht nur mit einem Finger, sondern mit mehreren Fingern verfolgen muß.“
Das Theater am Geländer, gegründet 1958 unter der Leitung von Jan Grossmann, hat vorübergehend Vaclav Havel als Hausdramatiker gehabt und ist mit Aufführungen von Kafka, Jarry, Hrabal und Kundera berühmt geworden. Leider bleibt mangels Synchronisation diese tschechische Tradition dem Tschechischunkundigen weiterhin unbekannt.
Michaela Ott
Im Rahmen der internationalen Gastspielreihe zum Theatertreffen: Theater CSFR, in der Akademie der Künste. Boris Hybner, „Concerto grosso“, Dienstag, 8. Mai, und Mittwoch, 9. Mai, 20 Uhr; TheaterZ, „Fettklößchen“ von Maupassant, Dienstag 8. Mai, 22.30 Uhr; „Die Verwandlung“ nach Kafka, Mittwoch, 9.Mai, 22.30 Uhr; Theater Gans an der Schnur „Erinnerung“ nach Hrabal, Donnerstag, 10. Mai, 20 Uhr; „Das Gartenfest“ von Havel, Freitag 11.Mai; „Die große Wanderung“ von H.Pospisil, Samstag, 12. Mai, 22.30 Uhr.
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