ENGLANDS PREMIER BLAIR KÜNDIGT GROSSE GESUNDHEITSREFORM AN: Vollmundige Ankündigung
Der britische Premierminister Tony Blair hat immerhin zugegeben, dass die staatliche Gesundheitsversorgung in einem erbärmlichen Zustand ist. Das ist neu: Bisher haben sowohl Labour als auch die Tories, wenn sie an der Macht waren, stets die Errungenschaften des Gesundheitssystems NHS gepriesen. Ob die neue Erkenntnis allerdings auch der erste Schritt zur Besserung ist, muss sich noch erweisen. Bis die Reformen umgesetzt sind, wird zwei oder drei Mal gewählt.
Von der „radikalsten Reform seit Gründung des NHS 1948“ oder gar einer „Revolution“, wie Gesundheitsminister Alan Milburn es ausdrückte, ist man weit entfernt. Es geht vor allem darum, die gröbsten Missstände zu beseitigen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern verfügt Großbritannien – in Relation zur Bevölkerungszahl – nur über halb so viele Ärzte. Krankenhausbetten sind knapper, die Wartezeiten weitaus länger. Wenn Blair einen Gesundheitsdienst ankündigt, „um den uns die Welt beneiden wird“, dann ist das um mehrere Nummern zu hoch gegriffen. Die Patienten wären schon froh, wenn der NHS auf europäisches Niveau angehoben würde, obwohl es auch in anderen Ländern Probleme gibt – nicht zuletzt in Deutschland, wo sich diverse Regierungen an der Gesundheitsreform die Zähne ausgebissen haben.
Die Ankündigung der ambitionierten Pläne ist eine Sache, ihre Umsetzung eine andere. Woher sollen 20.000 Krankenschwestern und Pfleger kommen? Das funktioniert nur, wenn man diejenigen, die den Dienst quittiert haben, zurücklocken kann. Doch der Beruf ist nicht nur schlecht angesehen, sondern auch schlecht bezahlt. Darüber hinaus ist die Reform widersprüchlich. Einerseits soll der private Sektor stärker in die Gesundheitsversorgung eingebunden werden, andererseits müssen Fachärzte sieben Jahre lang exklusiv für den staatlichen Gesundheitsdienst arbeiten und auf Privatpatienten verzichten, um ihre Schulden für ihre Ausbildung abzuarbeiten. Das ist ein Novum: In keinem anderen Beruf muss man für sein Studium mit Staatsdienst bezahlen. Ob der Ärztebund da mitspielt, ist zu bezweifeln.
Ebenso zweifelhaft ist es, ob Blair sich dazu durchringen kann, die Reformen dezentral vom NHS durchführen zu lassen, wie er es versprochen hat. Bisher hat ihn noch immer sein Kontrollwahn eingeholt. Die angekündigten Reformen haben jedenfalls bei der Bevölkerung hohe Erwartungen geweckt. Ähnliche Versprechen sind aber auch 1974, 1981, 1987, 1994 und 1997 gemacht – und später gebrochen worden. Weil die Reformen stets langfristig angelegt waren, konnte der jeweilige Premierminister nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Das gilt auch für Blair. RALF SOTSCHECK
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