EINSAM IN WITTENAU : Pubertätsumgebung
Ich bin vor zwei Jahren von Neukölln nach Wittenau gezogen. Man muss hier einiges an Kulturschocks verdauen. Die Nachbarn zum Beispiel, die heißen alle ganz exotisch. Die haben Namen, die kenne ich sonst nur aus ZDF-Vorabendserien, mit viel zu vielen Konsonanten, sie heißen zum Beispiel Tripitz. Oder Jäger. Oder Demmler. Demmler! Mein Treppenhaus ist deutscher als das, was sich Helmut Kohl den Lebtag in den Magen getan hat.
Ich kenne das alles, ich bin in einem süddeutschen Dorf aufgewachsen, das ein beliebtes Rentnerurlaubsziel war. Was ich von dort auch schon kenne: Es gibt keine jungen Leute. In Wittenau ist man mit vierzig noch ein Springinsfeld, und wenn man ein Loch in der Hose hat, sogar mit sechzig. Die ganze Infrastruktur ist auf Überalterung eingestellt: Die Trottoirs sind breiter als die Karl-Marx-Straße, damit auch ja zwei Rollatoren aneinander vorbeikommen. Und nie kommt einem auf diesen Gehwegen einer entgegen. Man kann hier stundenlang über autobahnbreite Bürgersteige gehen, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Reinickendorfer Trottoirs sind einsamer als die Sahara, und im Winter wird gestreut.
Inzwischen habe ich keine Zweifel mehr, dass ich endgültig zurück in meine Pubertätsumgebung katapultiert wurde. Vorgestern fuhr ich mit dem 124er Richtung Tegel, da stieg eine elegante Frau zu, vielleicht Mitte 50, modischer Hut, hellbeiger Mantel, Wildlederhandschuhe, einen seltenen Kunstkatalog unter dem Arm. Sie setzte sich neben mich, ich musterte sie ein wenig, sie erinnerte mich sehr an die Mutter meiner Exfreundin. Sie schaute zurück, da sagte ich ihr: Wissen Sie was, Sie erinnern mich an die Mutter meiner Exfreundin. Und sie sagte: Ach was. Und ich sagte: Ja. Die konnte mich nicht sehr gut leiden. Da mustert sie mich, von Kopf bis Fuß, zuckt mit der Augenbraue und sagt: Ja, kann ich mir vorstellen. FRÉDÉRIC VALIN