: Dylandance
Eine Kurzgeschichte von FRANK GOOSEN
Dirk Kobuschwewski, kurz Kobu, steckte den Finger in den Mund, beugte sich vor und machte Kotzgeräusche. Ich wusste nicht, was er hatte, schließlich waren sich die Experten einig, dass Carola Rösler das schönste Mädchen der Schule, ach was, der ganzen Stadt, nee, der ganzen Welt war. Ihre Haare waren eine Lüge, so etwas konnte nicht natürlich wachsen, so lang, so schwarz, so . . . Wenn man sich zu lang damit beschäftigte, wollte man Werbetexter für Shampoo werden: „Acht Uhr, Schulhof, Regen, die Frisur sitzt. Vierzehn Uhr, U-Bahn, die Frisur fällt bis zum Gürtel der verwaschenen Jeans. Achtzehn Uhr, mein Zimmer, die Frisur liegt ausgebreitet auf meinem Kopfkissen.“ Acht und vierzehn Uhr waren kein Problem, an achtzehn Uhr arbeitete ich, und das konnte Kobu nicht begreifen.
„Was findest du denn an der?“
Das war eine Frage, die man nicht beantworten konnte, genauso wenig wie man sagen kann, was man an atembarer Luft findet. Es geht eben nicht ohne und deshalb will man sie haben, bei jedem einzelnen Heben und Senken des eigenen Brustkorbs.
„Und außerdem“, meinte Kobu, „wie willst du denn an sie rankommen? Das haben schon ganz andere versucht.“
Es tut immer gut, wenn einem der beste Freund richtig was zutraut. Dummerweise hatte er nicht ganz Unrecht. Bisher waren noch alle bei Carola Rösler abgeblitzt.
„Ich habe da meine Methoden“, sagte ich, und versuchte so etwas wie ein geheimnisvolles Lächeln hinzubekommen, das verschleiern sollte, dass ich noch keine echte Ahnung hatte, was ich tun sollte, um Carolas Haare auf mein Kopfkissen zu bekommen. Aber ich hatte, was noch nicht vielen vergönnt gewesen war, eine Verabredung. Ich durfte sie sogar zu Hause besuchen. Na gut, es war keine echte Verabredung, sie war krank und seit ein paar Tagen nicht in der Schule gewesen, und ihre Mutter bestellte jetzt für jedes Fach den Klassenbesten, der Carola am Nachmittag in gesundheitlich unbedenklichen Häppchen fachlich auf dem Laufenden hielt. Ich sollte mit ihr Englisch machen. Mein Vater hatte mir immer prophezeit, dass es mir nützen würde, wenn ich gute Noten bekäme. Er schien Recht zu haben. Erstaunlich. Seitdem mir die ersten Haare dort gewachsen waren, wo man es nur beim Duschen sieht, hatte ich gedacht, meine Eltern redeten nur Unsinn. Wie man sich doch täuschen konnte. Und täuschen würde sich auch Kobu, der eh nur neidisch war und es nicht zugeben wollte. Ein Junge, der nicht vor dem Einschlafen mit beiden Händen an Carola Rösler dachte, war entweder blind oder schwul.
Allgemein wurden von den Experten die nahe liegenden Vorzüge der Carola R. geschätzt. Die Haare, die Augen, die Nase und das, wo eben alle hingucken. Mich hatte etwas ganz anderes begeistert, und zwar das lila Halstuch, dass sie vom evangelischen Kirchentag mitgebracht hatte. Die meisten Jungs und Mädchen trugen dieses blöde Tuch wie eine Windel um den Hals, die Spitze des Dreiecks nach unten, Carola aber hatte es ganz zusammengerollt und trug es in einem schmalen Streifen, und das machte mich wahnsinnig. Ich wusste nicht wieso, aber das war mir egal, schließlich wusste ich auch nicht, wieso Autos fuhren und setzte mich trotzdem hinein.
Ich war fest davon überzeugt, dass ich Zugang zu dem gefunden hatte, was Carola Rösler wirklich ausmachte, nicht ihre Haare, ihre Augen, ihre Nase, ihr Busen oder ihr Hintern, sondern das, was sie dazu brachte ein lila Halstuch so zu tragen, dass es mich wahnsinnig machte. Wir waren verwandte Seelen, das musste man ihr nur klar machen.
Ihre Eltern waren Akademiker und wohnten in der Nähe der Uni. Als ich am Nachmittag um Punkt fünf nach vier – also genau die fünf Minuten zu spät, die vortäuschen sollten, dass man sich durchaus noch in der Gewalt hatte – auf der Matte des weiß geklinkerten Flachdachhauses im Bungalowstil stand, hatte ich ein Geschenk dabei, schließlich gehörte sich das so, wenn man einen Krankenbesuch machte. Ihre Mutter öffnete in einem dunkelroten Hosenanzug, gab mir die Hand und sagte, Carola sei in ihrem Zimmer am Ende des Ganges, ich fände sicher selbst hin, sie müsse nämlich weg, sei schon spät dran. Besser konnte es gar nicht laufen. Carola allein zu Haus. Allein, krank, schutzbedürftig.
Ich klopfte an ihre Zimmertür, und zuerst hörte ich nichts, dann ganz leise ein „Herein“. Ich öffnete die Tür höflich erst mal nur einen Spalt und sah hinein. Carola lag im Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen, die Augen nur halb geöffnet, offenbar hatte sie geschlafen. Es schien ihr wirklich nicht gut zu gehen.
„O Hallo!“, sagte sie schwach, als sie mich erkannte. „Komm rein.“ Das Zimmer lag im Halbdunkel, die Gardinen waren zugezogen. „Ich bin’s!“, sagte ich, wahrscheinlich, um es mir selbst noch einmal zu versichern. Wenn ich mich jetzt auf die Bettkante setzte, würde ich sagen können, ich sei mit Carola Rösler im Bett gewesen.
Sie fragte: „Ist meine Mutter schon weg?“
„Gerade eben.“
„Gott sei Dank!“ Sie schlug die Bettdecke zurück, riss die Gardinen zur Seite und das Fenster auf. Hinter ihrem Bett stand ein Holzregal als Raumteiler, darin waren Bücher und Fotoalben und Schallplatten, auf dem Boden lagen Zeitschriften herum, ich erkannte Bravo und Popcorn, Bilder von Nena und Depeche Mode und Heaven 17 kämpften gegen Medi & Zini-Pferdeposter um die kulturelle und ästhetische Hegemonie auf der pinkfarbenen Raufasertapete. Carola trug einen Schlafanzug mit Bärchen drauf und einen dicken Wollschal. Sie sagte: „Ich dachte schon, die geht überhaupt nicht mehr!“, und dabei zog sie ihre Schlafanzughose aus und sagte, ich solle mich mal umdrehen. Ich drehte mich und hörte ihr beim Umziehen zu.
„Ich denke, du bist krank.“
„Das denkt meine Mutter auch. Ich war es auch. Ich will noch ein oder zwei Tage Sonderurlaub rausschlagen. Du kannst wieder gucken. Englisch kannst du vergessen. Interessiert mich nicht.“
„Mich eigentlich auch nicht.“
„Du bist doch so eine Granate in Englisch.“
„Ja, aber dafür kann ich nichts. Das fliegt mir so zu.“ Das stimmte. Ich konnte es einfach, ich tat nichts dafür. Ich war auch der denkbar schlechteste Nachhilfelehrer, denn ich wusste zwar immer, wie etwas heißen und wie man es aussprechen musste, aber ich wusste nicht, wieso. Manche Dinge waren einfach wie sie waren, was sollte man sich stundenlang mit den Gründen beschäftigen. Meine Mutter sagte mal, es sei oberflächlich, sich nicht dafür zu interessieren, was hinter den Dingen sei. Ich sagte, das sei meine mediterrane Leichtigkeit, und diese Leichtigkeit könnten wir faustisch verkopften Deutschen fast vierzig Jahre nach Hitler gut gebrauchen. Ich war nicht so oberflächlich, dass ich nicht aus ein paar aufgeschnappten Versatzstücken eine unanfechtbare Handlungsprämisse hätte formulieren können. Mangelnde Ortskenntnis hat mich noch nie davon abgehalten, anderen zu sagen, wo es langgeht.
„Es fliegt dir so zu, soso. Na, mir fliegt es weg.“ Sie sang: „Da fliegt mir doch das Blech weg.“ Ich fand das ein bisschen unpassend. Und die Nummer fand ich blöd. Also Überleitung.
„Ich habe dir was mitgebracht“, sagte ich, und nahm die Platte aus der nicht ganz quadratischen gelben Plastiktüte von ELPI, einem Plattenladen in der Innenstadt. ELPI stand wahrscheinlich für LP. Glücklicherweise denkt man bei solchen Worten irgendwann nicht mehr an das, was sie eigentlich bedeuten sollten.
„Oh, toll, danke, was ist es denn? Oh, Bob Dylan.“ Diese Zeile hatte eine beeindruckende emotionale Bandbreite. Es gibt nichts Deprimierendes als enttäuschte Vorfreude.
„Desire“, sagte ich. „Tolle Platte. Äh . . . also ich denke mal, das mit dem Englisch fällt mir auch deshalb so leicht, weil ich mich so viel mit Songtexten beschäftige.“
„Echt? Mir sind die egal. Es kommt doch auf die Melodie an.“ Irgendetwas lief hier falsch. Normalerweise konnte man sicher sein, dass Leute, die lila Halstücher trugen, sich sehr intensiv mit Texten beschäftigten. Oder rannten die nur wegen der schönen Melodien zum Kirchentag?
„Warte mal, ich lege mal was richtig Gutes auf.“ Sie ging zu dem Regal hinter ihrem Bett und suchte nach einer bestimmten Platte. Mir ging durch den Kopf, dass sie ja wenigstens aus Höflichkeit „Desire“ hätte auflegen können. Ich konnte die Platte doch nicht wieder mitnehmen. Schließlich hatte ich die schon.
„Einige Songs hier drauf hat Herr Zimmermann mit einem gewissen Jacques Levy geschrieben. Ich glaube, der macht in Amerika Theater.“
„Wer ist Zimmermann?“
Das war sicher ein Witz, also lachte ich. Carola drehte sich um, eine steile Falte zwischen den Brauen. „Wieso lachst du?“
Tatsächlich, sie meinte es ernst. „Äh . . . Zimmermann ist der Geburtsname von Bob Dylan. Robert Zimmermann.“
„Simmermähn? Ist doch ein schöner Name, wieso hat er sich denn umbenannt?“
„Na ja, Bob ist die Kurzform von Robert . . .“
„Ganz blöd bin ich auch nicht!“
„. . . und Dylan, das hat mit Dylan Thomas zu tun, dem Dichter.“
„Nie gehört.“
Ich fragte mich, ob Kobu nicht doch Recht gehabt hatte, als er sich den Finger in den Hals gesteckt hatte, aber da bückte sie sich etwas tiefer, ohne in die Hocke zu gehen. Was soll’s. Abgesehen vom Namen kannte ich auch nichts von Dylan Thomas.
„Ah, da ist sie!“, sagte Carola und richtete sich wieder auf, ging zu dem an einen alten Braun-Verstärker angeschlossenen Dual-Plattenspieler und legte die Platte auf.
„Was ist denn das?“, wollte ich wissen.
„Angelo Branduardi. Den finde ich toll!“
Als die Musik losging, schloss Carola die Augen und bewegte sich. Sie warf die Arme nach oben und ließ ihre Hüften kreisen, aber immer nur so ansatzweise. Es kam so etwas wie ein halber Bauchtanz dabei heraus. Sie machte das ziemlich lange. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich sah mir noch mal die Poster an. Nena. Hoffentlich legt sie die nicht auch noch auf. Da hätte ich lieber den Gaul daneben singen hören.
„Wie findest du das?“, fragte sie. Sie hatte die Augen noch immer geschlossen und tanzte, als wollte sie verbrannt werden.
Ich war in der Zwickmühle. Wenn ich jetzt sagte, ich fände Angelo ganz toll, dann würde ich Dylan nie wieder in die Augen sehen können, nicht mal auf einem Plattencover. Sagte ich meine ehrliche Meinung, konnte ich die Sache mit Carolas Haaren und meinem Kopfkissen wohl vergessen. Aber: Stand Ehrlichkeit nicht gerade wieder besonders hoch im Kurs? Es war doch eine verkommene, korrupte, verkehrte Welt dort draußen, bedroht von Umweltverschmutzung, Hunger und Atomkrieg. Eine Liebe, die auf einer Lüge sich gründete, musste vergehen wie eine Pusteblume im Sturm und . . . Meine Güte, Branduardi war schon dabei, mir das Hirn einzukochen. Ich sagte: „Also, ich finde, er hört sich immer an, als hätte er Schmerzen. Ich meine, was quengelt der so? Hat ihn seine Mami nicht mehr lieb oder ist ihm sein Quietsche-Entchen ins Klo gefallen oder was? Das ist doch was für Kinder!“
Na toll! Ein einfaches „Ist eigentlich nicht so mein Ding“ hätte es doch wohl auch getan, oder?
Carola Rösler hielt mitten in der Bewegung inne und öffnete die Augen. „Aber dein blöder Dylan kann besser singen, oder was?“
Aus der Nummer kam ich jetzt nicht mehr heraus. Das musste ich jetzt durchziehen, sonst war ich ein Schlappschwanz.
„Es geht nicht darum, ob er besser singen kann, es geht um die Inhalte, um die Songs . . .“
„Also ich finde, dein Robert Simmermähn muss dringend mal zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Dieses Gequäke hört sich richtig krank an.“
„Wohlklang ist nicht das einzige Kriterium. Es muss auch immer darum gehen, alte Hörgewohnheiten . . . äh . . .“
„Und außerdem kann man dazu nicht tanzen!“
Na klar, Branduardi war natürlich der Renner in den Szenediscos von London bis New York!
„Natürlich kann man zu Dylan tanzen! Überhaupt kein Problem!“
„Das will ich sehen!“
„Kannst du haben!“, sagte ich und nahm die Platte aus der Hülle. Plötzlich schoss mir durch den Kopf, dass ich vielleicht doch dahin kommen würde, wo ich noch vor einer Stunde hingewollt hatte. Ich hatte nämlich nicht umsonst ausgerechnet „Desire“ mitgebracht.
Etwas zu hastig nahm Carola die Nadel von der Platte. Branduardis Weinen endete abrupt in einer Art Keuchhusten. Hoffentlich hatte die Platte jetzt einen Kratzer.
Ich legte den Meister auf und verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust, als die ersten Takte von „Hurricane“ aus den Boxen kamen. Erst nur die Gitarre und die Geige, dann aber der Bass und das treibende Schlagzeug. Pistol shots ring out in the barroom night . . .
„Dazu kann man doch nicht tanzen!“
„Aber hallo!“, sagte ich und machte es ihr vor. Sie lachte sich kaputt. Dabei sah ich sicher nicht halb so blöd aus wie sie vorhin bei ihrem balinesischen Regentanz. Ich machte weiter, bis sie aufhörte zu lachen.
„Na ja, wenn man es so macht, kann man zu allem tanzen.“
Herrgott, was wollte sie denn noch? Es lief Dylan, und ich tanzte dazu. Was zu beweisen war. Aber ich hatte noch was im Ärmel.
„Warte mal“, sagte ich, „das hier wird dich endgültig überzeugen!“ Ich ging zum Plattenspieler, nahm vorsichtig die Nadel herunter, ohne dass Dylan husten musste (womit ich ganz nebenbei demonstrierte, wie man so etwas machte), ich drehte die Platte um und setzte die Nadel an den Anfang der Rille. Dann stellte ich mich direkt vor Carola Rösler, das schönste Mädchen der Welt, der Stadt, der Schule hin. Jetzt war sowieso alles egal.
Die Musik fing an. „Joey“ hieß die Nummer. Born in Red Hook, Brooklyn, in the year of who knows when.
„Was soll man denn dazu tanzen?“
„Dazu geht nur Klammerblues. Aber Tanz ist Tanz. Also?“
Sie legte ihre Arme um meinen Hals und ich meine um ihre Hüften. Sie grinste und sagte: „Wieso habe ich gerade das Gefühl, verarscht worden zu sein?“ Bevor ich antworten konnte, legte sie ihren Kopf auf meine Schulter. Was sie noch nicht wusste, war: Die Nummer dauerte zwölf Minuten. Abgesehen vom ergreifenden Inhalt war das die entscheidende Qualität des Songs und der eigentliche Grund, warum ich ausgerechnet diese Platte mitgebracht hatte. Kobu würde seine Ansicht, ich sei zu blöd, um bei Mädchen wie Carola Rösler zu landen, revidieren müssen. Und er musste zugeben, dass Dylan doch zu etwas zu gebrauchen war. Den fand er nämlich eigentlich auch zum Kotzen.
Aber vielleicht würde ich ihm die Einzelheiten dieses Nachmittags gar nicht erzählen. Vielleicht sollte ich warten, bis Dylan sechzig würde, und dann die Geschichte an irgendeine Zeitung verkaufen, damit es alle erfahren: Man kann zu Dylan tanzen. Man muss es nur wollen.
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