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Durchfall im Apothekenstreik

■ Streikaufruf der Apothekerverbände in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen nur teilweise befolgt/ Pharmaindustrie wittert Morgenluft: Gesundheitsministerium will angeblich einlenken

Berlin (taz/adn/dpa) — Nur vereinzelt sind die Apotheker in den neuen Bundesländern gestern dem Aufruf von Apothekerverbänden und -vereinen gefolgt, aus Protest gegen einen Lieferboykott der westdeutschen Pharmaindustrie in den Streik zu treten. Die führenden Medikamentenhersteller der Bundesrepublik haben zum 1. Januar ihre Lieferungen in die ehemalige DDR vorerst eingestellt, weil sie laut Einigungsvertrag ihre Produkte 55 Prozent billiger verkaufen müßten als im Westen. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen hatten die Apothekervereinigungen deshalb für gestern Streikmaßnahmen angekündigt. In Rostock und im Raum Schwerin blieben die Apothekentüren zumindest für einige Stunden geschlosssen. In Thüringen verzichteteten die Apotheker jedoch völlig auf die Arbeitsniederlegung, in anderen Städten distanzierten sich die Apotheker sogar ausdrücklich von dem Streik. Dennoch kam es in vielen Städten zu längeren Schlangen vor den Apotheken und zu Engpässen.

Die seit dem 1. Januar geltende Bestimmung, derzufolge Westpillen nur noch zum halben Preis verkauft werden dürfen, hat vielerorts für heillose Verwirrung gesorgt. Häufig lagen gestern die neuen Preislisten noch gar nicht vor.

Zugleich beschwerten sich Apotheker, daß sie die Westprodukte noch für den vollen Preis hatten einkaufen müssen, während sie jetzt von den Kunden nur noch die Hälfte fordern dürften. Einige Apotheken verlangten deshalb, die Kunden sollten die Preisdifferenz aus eigener Tasche bezahlen oder sich von ihrem Arzt ein DDR-Präparat verschreiben lassen.

Der Lieferstop der führenden bundesdeutschen Pharmahersteller hat dem Deutschen Apothekerverein zufolge schon bei einigen wichtigen Medikamenten für erhebliche Versorgungslücken gesorgt. So mangele es bereits an Insulin und an Herzmedikamenten und Präparaten gegen Magen- und Darmgeschwüre. Zu einer wirklichen Krise dürfte der Lieferstop der westlichen Pillendreher jedoch kaum führen, denn der Marktanteil der bundesdeutschen Pharmaindustrie lag Ende 1990 in Ostdeutschland zwischen 10 und 20 Prozent. Das Gros der verordneten Medikamente wird nach wie vor von der heimischen Industrie produziert. Das könnte sich jedoch rapide ändern, denn auch die DDR-Hersteller sind laut Einigungsvertrag zu einem 55prozentigen Preisnachlaß gezwungen, was für viele pharmazeutische Betriebe das Aus bedeuten dürfte. Zwei der bisher größten Pharmaproduzenten Ostdeutschlands haben deswegen Klage beim Bundesverfassungsgericht gegen die Klausel im Einigungsvertrag eingelegt.

Der Lieferstop der westlichen Konzerne hat gestern zu scharfen öffentlichen Reaktionen geführt. Der Sozialexperte der SPD, Rudolf Dressler, forderte die Bundesregierung auf, Zwangsmaßnahmen gegen diesen „Erpressungsversuch“ der Pharmaindustrie zu ergreifen. Das Verhalten der Arzneimittelhersteller sei eine „politische Kampfansage zu Lasten der Bürger in den neuen Bundesländern“, die völlig unverständlich sei, weil die bundesdeutsche Industrie seit Jahren die gleichen Produkte im Ausland sehr viel billiger verkaufe, als jetzt für die ehemalige DDR gefordert wird. Auch der Bundesminister für besondere Aufgaben, Günther Krause, geißelte gestern den Lieferstop der Pharmahersteller als in „hohem Maße unfair“. Krause, der als DDR-Unterhändler den Staatsvertrag selbst mit ausgehandelt hat, kündigte an, der von der Pharmaindustrie jetzt so vehement bekämpfte Preisabschlag könnte wieder geändert werden.

Beim Bundesverband der pharmazeutischen Industrie witterte man gestern deshalb auch Morgenluft für ungeschmälerte Profite. Heute wollen Pharmaindustrie, Großhandel und Apothekerverbände mit dem Bonner Gesundheitsministerium über ein Alternativmodell verhandeln. Dieses Modell sieht einheitliche Preise in Ost- und Westdeutschland auf Westniveau vor, wobei die drei Branchen jeweils mit Sonderabschlägen die Krankenkassen vorübergehend entlasten wollen. Das Blüm-Ministerium habe bereits Entgegenkommen signalisiert. Ve.

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