Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten: Lügen der Gnade
Das Dilemma des biblischen Verbots, zu lügen, liegt auf der Hand: Jeder lügt gern mal, ja, sieht sich aus praktischen oder humanitären Erwägungen oft geradezu dazu gezwungen, aber wehe, man wird selbst belogen!
Tröstlich ist im Angesicht dieses unauflösbaren Widerspruchs allein, dass es sich ganz offenbar um ein Problem von zeitloser Art handelt. Schließlich wurde schon das im Sinai umherirrende Volk Israel damit behelligt, weil wohl auch damals schon gerne mit der Wahrheit Frevel getrieben wurde. Wobei sich aber auch hier die Frage aufdrängt, ob Moses auf dem Berg wirklich auf Gott traf und wegen der Gewalt der Gebote halb verbrannt herunterstieg oder ob er in Wahrheit nur ungeschickt mit Chemikalien herumhantierte und Göttliches nur simulierte, wie zuweilen auch behauptet wird.
Wie dem auch sei, die Schwierigkeit bleibt: Soll man tatsächlich immer die Wahrheit sagen? Und: Welche Lügen sind erlaubt? Eine kleine Hilfestellung ist der Wortlaut des Gebots selbst. Wurde es früher stets verkürzt mit „Du sollst nicht lügen“ zitiert, heißt es in modernen Bibelfassungen: „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten.“
Hier wird die Lüge also nicht grundsätzlich verworfen. Sie ist nur dann verwerflich, wenn sie „wider deinen Nächsten“ gerichtet ist. Notlügen für den Nächsten sind demnach selbstredend erlaubt. Das Entscheidende ist, ob man jemandem schadet oder nützt. Lügen zum eigenen Schutz oder zum Schutz anderer, beispielsweise in einer Diktatur oder im Falle himmelschreiender Ungerechtigkeit und im Auftrag höherer Werte, sind nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwünscht.
Aber auch in den Niederungen des Alltags zwischenmenschlicher Beziehungen darf gelogen werden. Anwortet man also auf die Frage „Hast du mich betrogen?“ entgegen den Tatsachen mit „Nein“, so ist das durchaus nicht verwerflich. Die Wahrheit entlastet nur den Betrüger und nutzt dem Betrogenen überhaupt nichts, im Gegenteil.
Außerdem ist die Wahrheit oft geradezu tabu. Man sagt einem Menschen, der einem nahe steht, nicht, er sei hässlich oder ein hoffnungsloser Fall oder mäßig intelligent, auch wenn es der Wahrheit entspricht. Und wer möchte auf Fragen wie „Bin ich zu dick?“, „War ich gut?“ und „Liebst du mich?“ wirklich eine ehrliche Antwort haben? Manche Lügen sind ein Gebot der Menschlichkeit, der Gnade.
Das Wort „Zeugnis“ legt außerdem nahe, dass es nicht um die Schlichtlüge geht, sondern darum, die Wahrheit zu sagen, wenn es um etwas Gewichtiges geht, um eine schicksalsentscheidende Aussage.
In jedem Fall will aber geschickt gelogen sein. Was so oder so eine Frage der Begabung ist.
Silke Mertins
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