: Drunter(spielen) und Drüber(singen)
■ Ein Symposion zur „Improvisation in der Volksmusik“
Die Improvisation ist ein Wesenselement des Jazz. Es gibt sie aber auch in anderen musikalischen Bereichen. Viele ethnische Musik überall auf der Welt basiert auf dem erfinderischen Augenblicksprinzip — vom Fernen Osten über den arabischen Raum bis nach Afrika. Was aber ist mit der Improvisation in der europäischen Volksmusik?
Dieser kniffligen Frage spürte ein internationales Symposion nach, das Ende Oktober zwei Tage lang in Innsbruck stattfand. Organisiert vom Institut für Musikalische Volkskunde, einer Außenstelle der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst „Mozarteum“ in Salzburg, und mit Teilnehmern aus den fünf Alpenländern (Jugoslawien, Österreich, Schweiz, Italien und der Bundesrepublik) sollte die Konferenz Aufschluß darüber bringen , welche Rolle dem spontanen Element in der authentischen Volksmusik der Alpen in der Vergangenheit zukam und welchen Stellenwert es heute noch besitzt.
Sowohl die Theorie (in Form zahlreicher wissenschaftlicher Vorträge) als auch die Praxis (mit Live-Konzerten) förderte die Erkenntnis zu Tage, daß — wenn schon nicht das Improvisieren im Sinne des Jazz — so doch das Variieren zu den alteingesessenen Musizierpraktiken des Alpenraums zählt. Volksmusikanten, die noch bis zum Zweiten Weltkrieg einer vorwiegend mündlichen Tradition entstammten, waren geradezu gezwungen, wollten sie nicht während ihrer Auftritte in Langeweile versinken, ihr Spiel durch Spontanerfindungen zu würzen. Es handelte sich dabei um Variationen ihres bewährten Landler-Repertoires, das im Rahmen des vorgegebenen Schemas Ausformungen und Veränderungen erfuhr. Dafür war ein Freiraum vonnöten, der allein schon durch die Dauer der einzelnen Stücke, wie der gesamten Aufführung gegeben war. Um die Tanzpaare in Schwung zu bringen, war pro Stück eine Mindestlänge unabdingbar, was eine Variationspraxis erforderlich machte, welche sich mit der Länge des Auftritts steigerte, wobei zu sehen ist, daß ein fünfzehnstündiges „Aufspielen“ (mit kleinen Pausen) für einen Hochzeitsmusiker keine Seltenheit war. Dem instrumentalen Stegreifspiel kam dabei zupaß, daß bei Tanzveranstaltungen (und instrumentale Volksmusik wurde fast ausschließlich zum Tanz gespielt) die Musik nie im Mittelpunkt stand, sondern im Gegenteil nur Mittel zum Zweck war — als Medium der Bewegung dienende Funktionen erfüllte. Das hatte zur Folge, daß musikalische Perfektion nicht an der obersten Stelle der Publikumserwartung stand, sondern Lebendigkeit und Ausgelassenheit, was der Risikobereitschaft der Musiker, einmal etwas Neues zu wagen, entgegenkam. Darüber hinaus stachelte die aufgekratzte Stimmung in einem „alkoholisierten“ Wirtshaussaal die Musikanten zu instrumentalen Waghalsigkeiten an. Sie konnten direkt auf Äußerungen des Publikums reagieren, was eine musikalische Ad- hoc-Praxis förderte, in der das „Aus- dem-Hut-Spielen“ eine wichtige Stellung innehatte. Ein Umstand, der auch für die vokalen Musiktradtionen der alpenländischen Volksmusik gilt. In den Jodlern gibt es ebenfalls das „Zueinand'“- und „Füreinand'“-Singen, wie das freie Singen der Gegenstimme aus dem Kopf bei den Einheimischen genannt wird.
Der Funktionswandel der Volksmusik in den letzten Jahrzehnten — von der „Tanzlmusi“ zur Konzertmusik — hat die improvisatorische Komponente zurückgedrängt. Auf diese Entwicklung wies Dr. Gerlinde Haid, die Organisatorin des Symposions, hin. Ein Publikum, das ausschließlich wegen der Musik in die Konzerte kommt, erwartet fehlerfreie, „perfekte“ Darbietungen, was die Musiker im freieren Spiel hemmt. Die „Leitzordnermusiker“ sind auf dem Vormarsch, die nicht auswendig, sondern nach Noten spielend, auf Nummer sicher gehen. Gegen eine solch betonierte Musizierpraxis sollten die Live-Auftritte des Innsbrucker Kongresses einen Kontrapunkt setzen.
Ein Ensemble slowenischer Glockenschläger stellte einen Brauch aus der jugoslawischen Alpenregion vor, bei dem sich an kirchlichen Feiertagen der Glockenturm der Dorfkirche in ein überdimensionales Glockenspiel verwandelt. Mit Ohrenschützern gegen die Lautstärke gewappnet, schlagen die Musiker in der Turmspitze die Schwengel mit der Hand auf den Glockenrand, was — durch ausgeklügelte Abfolgen — eine Art alpenländischer Gamelanmusik minimalistischer Prägung ergibt. Anschauungsunterricht im traditionellen Musizieren gab die Gruppe „Moser & Knoll“, drei ältere Herren mit zwei Akkordeons und Harfe — „zusammen 230 Jahre alt“, wie sie selbst sagten. In ihrem Spiel offenbarte sich die Variationsbreite innerhalb der alten Landlermusik. Dieser traditionelle Rahmen wurde von zwei jungen Ensembles gesprengt, die, mit einem weiteren musikalischen Horizont (der Jazz, Rock und Weltmusik einschließt) versehen, riskantere Manöver unternehmen.
Das Quintett „L'Orchestrina“ kommt aus dem Tessin und präsentiert das ganze Spektrum alter Volksmusik ihrer Region in neuer Gestalt. Der Zupfbaß macht Drive, und Mandoline und Geige intonieren mit Schwung. Noch frecher die Schweizer Formation Appenzeller Space- Schöttl. In ihrer freundlich-anarchischen Art rennen sie mit Hackbrett und Baßgeige viele Tabus über den Haufen, in dem sie in die Landlermelodien Freejazztöne einschmuggeln und ausschweifend improvisieren. Es gibt sie also doch (wieder) — die Improvisation in der Volksmusik. Christoph Wagner
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