Drogenszene am Kottbusser Tor: Der Zorn der Migranten
Seit Jahren ist die Gegend um das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg Treffpunkt für Drogenabhängige. Die überwiegend türkischen Anwohner fühlen sich von den Politikern im Stich gelassen.
Von Sevgi U.s Balkon aus sieht Kreuzberg, sieht die Gegend um das Kottbusser Tor herum beinahe schön aus. Das liegt unter anderem daran, dass ihr Balkon im achten Stock liegt: Der weite Blick von oben über den runden Platz mit dem Kreisverkehr in der Mitte und der Hochbahn darüber lässt so manches hässliche Detail im Unscharfen verschwinden. Die Gruppen von Fixern und Trinkern an den U-Bahn-Eingängen - aus der Höhe betrachtet beleben sie den Platz. Ebenso wie die alten Männer auf den Bänken gegenüber oder die Frauen mit den Einkaufsrollern, die sich um den Obststand drängen. Blutige Papiertücher, liegen gelassene Spritzen in längst zugemüllten Blumenkübeln - von hier aus nicht zu sehen. Dass Sevgi U.s Balkon eine so schöne Aussicht bietet, liegt aber auch daran, dass man von hier aus eine der größten Scheußlichkeiten am Platz gar nicht sehen kann. Frau U. wohnt nämlich darin.
Auf zirka 300 schätzt Astrid Leicht, Leiterin der Drogenhilfe Fixpunkt, die Zahl der Abhängigen, die sich am Kottbusser Tor treffen. Den "harten Kern" bildeten etwa 100 Leute. 80 Prozent davon sind Männer, etwa ein Drittel nichtdeutscher Herkunft. Viele sind mehrfach abhängig - und relativ alt: Methadonsubstitution führe dazu, dass ihre Lebenserwartung steige, so Leicht. Die Drogenhelferin plädiert dafür, ihnen Räume anzubieten und sie so von der Straße zu holen. Der "Kotti" ist seit Jahrzehnten Szenetreffpunkt. Nach der Schließung eines zum Konsum genutzten Parkhauses sowie mehrerer Drogenprojekte ist die Belastung für die Anwohner gestiegen. Schließt auch noch der Fixpunkt, bliebe in Berlin nur ein Drogenkonsumraum für insgesamt etwa 8.000 Junkies.
Das Neue Kreuzberger Zentrum ist eine typische 70er-Jahre-Sozialbau-Sünde, mit mehreren Zugängen, verschachtelten Außenfluren und einer nahezu komplett leer stehenden Ladenzeile im ersten Geschoss. Im Viertelkreis um den Platz gebaut, überbrückt der Koloss, an dem das bisschen blasse Farbe eher mitleiderregend als anheimelnd wirkt, die Adalbertstraße. Die Anwohner nennen ihn kurz und brutal passend "NKZ". Vier Fünftel der hier Wohnenden sind nichtdeutscher, meist türkischer Herkunft. Manche von ihnen sind der Ansicht, dass genau das eine der Ursachen des Problems ist, gegen das sie derzeit kämpfen: des massiven Drogenkonsums direkt vor ihrer Tür.
"Würden hier nicht so viele Ausländer wohnen, hätte die Polizei doch schon längst aufgeräumt": Mahmut H.s Stimme ist leise vor Zorn. Auch er wohnt im NKZ. Weinend habe seine achtjährige Tochter kürzlich vor der Wohnungstür gestanden, erzählt er. Mit dem Fahrstuhl wollte sie nach unten fahren. Als der sich öffnete, lagen zwei Junkies darin, betäubt vom frischen Schuss. "Hätte ich etwas in der Hand gehabt, hätte ich zugeschlagen", sagt der Vater. "Aber ich will mich doch wegen denen nicht schuldig machen. Ich bin doch Familienvater." Nun engagiert sich Mahmut H. mit anderen BewohnerInnen in der Anwohnerinitiative Kottbusser Tor. Jeden Samstag stehen die Aktivisten neben dem Obststand vor dem NKZ. "Nein zu Drogen am Kottbusser Tor" steht auf ihrem Plakat. In ihrem Flugblatt heißt es: "Jeder hat ein Recht auf ein Leben in Würde. Das gilt aber nicht nur für Drogenkonsumenten und Alkoholiker, sondern für alle."
Mit seiner Wut ist Mahmut H. nicht allein. Mit Absicht hätte die Stadt die Drogenszene dorthin gebracht, wo viele Ausländer leben, meint ein anderer Mann: "Sie denken, wir wehren uns nicht. Aber das stimmt nicht: Mit Druck sind die Junkies hergebracht worden, und jetzt werden wir sie mit Druck vertreiben." Jahrelang habe sich die Polizei nicht um das Problem gekümmert: "Jetzt werden wir aktiv, und nun kommen sie. Aber nicht, um unsere Kinder zu beschützen: Sie schützen die Junkies vor uns!"
Der Sozialarbeiter Ercan Yasaroglu, der die BewohnerInnen des NKZ betreut, seufzt. "Hyperaktiv" nennt er die Reaktion der Väter auf die angespannte Lage am Kottbusser Tor. Vier Stunden seiner Arbeitswoche sind eigentlich für die Betreuung der Bewohner des NKZ vorgesehen. Momentan macht er fast nichts anderes. Er berät die Anwohnerinitiative, vor allem aber bemüht er sich, die Väter - "Papas", sagt Yasaroglu - zu beruhigen: Manche von ihnen seien "bereit zu Selbstjustiz".
Dabei ist die Drogenszene am "Kotti" eigentlich nichts Neues. Doch die Situation habe sich zugespitzt, sagt auch die vor Ort tätige Drogenhelferin Astrid Leicht. Ein lange leer stehendes, von Drogenkonsumenten und Dealern genutztes Parkhaus neben dem NKZ wurde geschlossen. Konsum und Geschäfte verlagerten sich in die Gänge und Flure im und um das unübersichtlich große Haus. Zwei Projekte für Süchtige türkischer und arabischer Herkunft wurden kürzlich geschlossen. Und auch der Fixerstube hinter dem NKZ, einer von zweien, die es in Berlin noch gibt, steht die Schließung Ende März bevor.
Dass der grüne Bürgermeister des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz, die Idee hatte, sie künftig in dem wenige hundert Meter vom Kotti entfernten Haus anzusiedeln, in dem der Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir mit Frau und Kind wohnt, hat dem Aufstand der Anwohner immerhin überregionale Aufmerksamkeit verschafft. Aber auch Öl ins Feuer gegossen: "Wohlhabende Zugezogene" steckten hinter der Anwohnerinitiative, heißt es etwa in einem anonymen Beitrag im Kreuzberger Debattenforum der Website "Indymedia", die nichts anderes im Sinn hätten als "die Säuberung des Kiezes von der alten Bevölkerung, von Multikulti, von Subkulturen und dem, was eigentlich Kreuzberg ausmacht." Schulz Plan ist mittlerweile vom Tisch.
Die Leute aus dem NKZ schütteln über solche Verschwörungstheorien die Köpfe. Wären sie wohlhabend, wären viele von ihnen längst hier weg. Wer im NKZ wohnt, hält von Gentrifizierung, von Verdrängung nichts. Er wird ihr nämlich zum Opfer fallen. Und "alte Bevölkerung", "Multikulti" - das sind doch sie selber. Viele der Einwandererfamilien sind zudem selbst vom Drogenproblem betroffen. "Wenn ich die Junkies im U-Bahnhof sehe, denke ich an meine eigenen Kinder", sagt Ayse S., die in einem Café im NKZ arbeitet. Sie hat zwei Söhne, beide sind drogenabhängig, erzählt sie. Wie sie ihnen helfen kann, weiß Ayse nicht. "Ich versuche, sie mit Liebe zu heilen", sagt sie. Dass Vertreibung der Szene das Drogenproblem nicht löst, weiß auch der Mann, der eben noch damit gedroht hat. Fast in jeder türkischen Familie hier, glaubt er, gebe es mittlerweile einen Abhängigen. "Ich bin doch selbst ein Linker, ich bin Menschenrechtler", sagt er. "Ich habe Mitleid mit den Abhängigen, sie brauchen Hilfe. Aber es muss doch auch mal jemand Mitleid haben mit uns."
Im Kiosk nebenan sitzt Ali D.. Seit 40 Jahren lebt der 60-Jährige am Kottbusser Tor. Drei Drogentote habe er bereits gefunden, erzählt der Kioskbetreiber. Getan werde aber nichts. Kürzlich gab es zwar eine Bürgerversammlung: Die Politiker dort redeten aber immer nur von Drogenkonsumräumen, schimpft er: "Wie kann ein Bürgermeister Süchtigen denn auch noch so einen Giftraum anbieten? Das ist doch nicht seine Aufgabe! Stattdessen soll er ihnen lieber Therapie, Arbeit, Lebensperspektiven geben!" Wählen gehe er nicht mehr, sagt D.
Der Sozialarbeiter Yasaroglu sitzt im Bewohnerzentrum am hintersten Ende der leeren Ladenzeile im NKZ. Auf dem Weg dorthin sammelt er täglich zerknüllte Alufolie, Spritzen, leere Flaschen ein. Die aufgeheizte Stimmung setze die Männer unter großen Druck, sich "als Männer zu beweisen", sagt Yasaroglu. Viele seien ohne Arbeit, den ganzen Tag zu Hause. Es sei bereits zu Auseinandersetzungen mit Dealern gekommen, ein Vater wurde verletzt. "Es sind oft Männer, die noch nicht lange in Deutschland leben, die sich in der Anwohnerinitiative engagieren", sagt Yasaroglu. Die anderen seien häufig zu frustriert: "Sie glauben nicht mehr daran, dass sich durch Dialog mit Behörden etwas ändert."
Im Bewohnerzentrum treffen sich auch die Frauen aus dem NKZ. Sevgi U. ist dabei. Die 58-Jährige wohnt seit siebzehn Jahren hier. Auch sie ist wütend: "Ich habe 40 Jahre lang in Deutschland gearbeitet, Steuern bezahlt. Jetzt will ich in Ruhe leben", sagt sie. "Es ist sehr schwer, hier Kinder aufzuziehen", sagt ihre Nachbarin Fatma. Die Kleinen könnten nie allein hinaus. Und um die Größeren mache man sich Sorgen, dass sie sich falsche Vorbilder nehmen könnten, ergänzt eine andere: "Die Drogenkonsumenten - oder auch die Dealer."
Vor drei Jahren schon gründete sich am Kotti die Initiative "Mütter ohne Grenzen", die nachts durch die Hinterhöfe und Durchgangswege patrouilliert, um Drogendealer zu stören und zu vertreiben. Ercan Yasaroglu hat die Initiative unterstützt. "Die Frauen agieren besonnener und provozieren keine Konflikte", sagt er. "Wir kämpfen ja schon seit langem mit dem Drogenproblem", sagt Fatma. "In den letzten Jahren haben wir viel dazu gelernt." Früher hätten sie Angst gehabt, mit Behörden zu kooperieren: "Jetzt wissen wir, wo wir uns hinwenden müssen. Wir haben mittlerweile gute Kontakte zum Jugendamt." "Wir haben Selbstvertrauen und Selbstsicherheit bekommen", ergänzt Sevgi U. Die Frauen haben gelernt, eine Meinung zu haben - und sie auch öffentlich zu vertreten.
Deshalb waren sie auch bei der letzten Bürgerversammlung mit dem Bezirksbürgermeister und anderen Politikern. Dass sie sich dort den Vorwurf anhören mussten, hinter der Anwohnerinitiative steckten in Wahrheit wirtschaftliche Interessen, sie sei nur ein Instrument, den Konflikt künstlich aufzuheizen und so zur "Yuppisierung" Kreuzbergs beizutragen, ärgert die Frauen deshalb umso mehr. Es zeige eins, meint Sevgi U.: "Die Menschen hier werden immer noch nicht ernst genommen."
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