Dribbeln als Selbstzweck: Der Engel der krummen Beine
Vor 25 Jahren starb der legendäre brasilianische Fußballer Mané Garrincha im Suff. Sein Biograf Ruy Castro über den amateurhaftesten Spieler, den der Profifußball jemals hatte.
taz: Herr Castro, was hat Mané Garrincha zu einem solch außergewöhnlichen Spieler gemacht?
Ruy Castro: Das ist schwer zu erklären. Sein Repertoire an Tricks zum Beispiel war gar nicht überragend groß, aber er war unglaublich verspielt. Manchmal wartete er auf den Verteidiger, den er gerade ausgetrickst hatte, um ihn dann erneut auszuspielen. Und trotz seiner krummen Beine hatte er die Gabe, fast nie zu stürzen. Dazu war er auf den ersten Metern unheimlich schnell. Zugleich war Garrincha aber keinesfalls ein Modellathlet, er trainierte nur ungern. Sein Spaß am Fußball hatte nichts mit Toren oder Siegen und noch nicht einmal mit Geld zu tun. Garrincha hatte einfach Spaß am Dribbeln.
Malandro Mané Garrincha wurde als Manoel Francisco dos Santos am 28. Oktober 1933 in Pau Grande in der Provinz Rio de Janeiro geboren. Später wurde Mané meist nur "Garrincha" gerufen - benannt nach einem Urwaldvogel aus der Umgebung der kleinen Stadt, in der er aufwuchs. 1953, mit 19 Jahren, begann seine Profikarriere bei Botafogo in Rio de Janeiro. Als Rechtsaußen, der seine Gegner schwindelig spielte, wurde er bald als "alegria de povo" bekannt, die "Freude des Volkes".
Weil Garrincha mit einem O- und einem X-Bein zur Welt gekommen war, wurde er auch "o anjo das pernas tortas" - "der Engel der krummen Beine" - genannt. Und der Dramatiker Nelson Rodrigues hat ihn den "Charlie Chaplin des Fußballs" getauft.
1958 wurde er an der Seite des 17-jährigen Jahrhundertfußballers Pelé in Schweden Weltmeister mit Brasilien - damit hatte das Land das Trauma der 1:2-WM-Final-Niederlage im heimischen Maracanã-Stadion 1950 gegen Uruguay überwunden.
Vier Jahre später, 1962, wurde Brasilien mit einem überragenden Garrincha zum zweiten Mal Weltmeister. Dabei wäre Garrincha kurz vor der WM 1958 fast ausgemustert worden: Ein Psychologe der Nationalmannschaft hatte ihm einen niedrigen Intelligenzquotienten und ein geringes Aggressionsniveau attestiert und von einer Aufstellung Garrinchas bei den Spielen abgeraten. Der Dramatiker Nelson Rodrigues erwiderte empört: "Er hatte dieses entwaffnende Gemüt eines Kindes, das mit einer Schrotflinte Zaunkönige abschießt und in seiner grenzenlosen Herzlichkeit im Dorf sogar die Hunde grüßt. Die Gesetze von Gut und Schlecht gelten für Garrincha nicht. Niemals würde der spitzfindige Verstand des Gegners die rasende Geschwindigkeit seines Instinkts einholen. Und jetzt stellen Sie sich vor: Man hat diesen Mann geistig zurückgeblieben genannt!"
Garrincha war nicht nur ein "Malandro", ein Schlitzohr, Schlingel - eine Figur, die bis heute nicht aus dem brasilianischen Fußball wegzudenken ist -, sondern auch ein "Mulherengo", ein Frauenheld.
1962 begann er eine Beziehung mit der Samba-Sängerin Elza Soares und verließ seine Ehefrau, mit der er sieben Kinder hatte. Das bürgerliche Brasilien war empört. Kurz darauf ging es mit Garrinchas Karriere bergab - der Zustand seiner lädierten Knie verschlimmerte sich, und er trank noch mehr Zuckerrohrschnaps als schon zuvor.
1965 - ein Jahr nachdem sich die Militärs in Brasilien an die Macht geputscht hatten - ließ sich Garrincha am Knie operieren. Doch auch nach dem Eingriff konnte er nur noch sporadisch Profifußball spielen. 15 Jahre lang, von 1962 bis 1977, lebten Garrincha und Elza Soares zusammen, doch dann verließ ihn die "bossa negra": Elza konnte seine Alkoholexzesse nicht länger ertragen.
Als Garrincha am 20. Januar 1983 als erst 49-Jähriger an einer Leberzirrhose starb, ließ er - mindestens - 14 Kinder von fünf verschiedenen Frauen zurück.
Es gibt nicht viele Filmaufnahmen, in denen man Garrinchas Kabinettstückchen sehen kann?
Das ist leider richtig, denn seine Karriere war bereits zu Ende, als das Fernsehen seinen Siegeszug angetreten hat. Dafür wurden ihm aber viele musikalische Denkmäler gesetzt. Es gibt zum Beispiel einen Karnevalsmarsch von 1959, gesungen von Angelita Martinez, einer Vaudeville-Tänzerin, die zu dieser Zeit auch Garrinchas Geliebte war; oder "Balançamba" von Roberto Menescal und Ronaldo Bôscoli. Das Lied spielt mit den Wörtern "balançar", balancieren, und Samba. Wer Tanzen lernen wolle, der solle es sich von Garrincha zeigen lassen. Der wisse sich zu bewegen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren - "Balançamba".
Man sagt, dass der Karnevalsmarsch dagegen einen etwas anzüglichen Text hatte.
Das stimmt nicht ganz. Denn eigentlich wird nur darüber gesungen, dass Garrincha aus einem kleinen Ort namens Pau Grande stammt. Pau ist allerdings im Brasilianischen auch ein Wort für Penis, und in dem Lied klingt es tatsächlich so, als ob er einen großen Penis hätte. Weil Garrincha ein großer Frauenheld war, amüsierten sich die Leute über diese Textinterpretation.
Auch die große Liebe im Leben Garrinchas, Elza Soares, war eine Sängerin. Sie stammte aus ähnlich armen Verhältnissen wie er selbst.
Wissen Sie, wie Elza Soares bekannt wurde? Sie war 19 Jahre jung, lebte in einer Favela und hatte damals bereits vier Kinder. Ihr Leben war eine absolute Misere, als sie in einer Radiosendung des Komponisten Ary Barroso auftrat, einem Nachwuchswettbewerb. In der Sendung gab es einen großen Schwarzen, der einen Gong schlug, wenn man nicht gut genug war. Den anderen gab Barroso einen bis fünf Punkte für den Auftritt, und der Sieger erhielt ein Preisgeld. Elza sah zerbrechlich aus und trat auffallend schlecht gekleidet auf, sodass Ary Barroso sie fragte: "Meine Tochter, vom welchem Planeten kommen Sie denn?" Und Elza antwortete: "Mein Herr, ich komme vom Planeten Hunger." Barroso gab ihr fünf Punkte, und sie gewann den Wettbewerb.
Als Garrincha und Elza 1962 aufeinandertrafen, neigte sich Garrinchas Karriere bereits dem Ende zu. Er hatte Knieprobleme und war dem Alkohol verfallen. Doch was dem frisch verliebten Paar mindestens genauso zu schaffen machte, das war die moralische Entrüstung des bürgerlichen Brasiliens.
Es war ein komplett ungerechtes Urteil. Er wurde von einer scheinheiligen Öffentlichkeit verurteilt, weil er seine Familie in dem kleinen Städtchen Pau Grande verlassen hatte, immerhin sieben Kinder - ein weiteres erwartete seine Frau. Für viele war es seinerzeit noch ein schweres Vergehen, dass er seine Ehe aufgab - und das auch noch für eine verruchte Sängerin. Darum wurden die beiden heftig attackiert. Man kann aber nicht einfach sagen, Garrincha hätte seine Familie ihretwegen im Stich gelassen. Er hatte unzählige Geliebte, aber in Elza war er verliebt.
War Garrincha wegen seines unsteten Lebenswandels eine umstrittene Persönlichkeit?
Nein. Trotz der moralischen Vorurteile, was seine Beziehung zu Elza betrifft, wurde er von allen geliebt. 1958 war Brasilien mit ihm und Pelé zum ersten Mal Weltmeister geworden, und 1962 konnte Brasilien den Triumph wiederholen - Garrincha war der beste Spieler des Turniers. Danach entwickelte sich sein Leben jedoch auf mehr oder weniger tragische Weise. Er wollte weiter Fußball spielen, was aber aufgrund seiner Knieprobleme kaum mehr möglich war.
Pelé, Sportler des Jahrhunderts, war im Vergleich zu Garrincha geradezu ein Saubermann. Während sich Pelé zum besten Spieler der Welt entwickelte, ging es mit Garrincha jedenfalls bergab?
Im Vergleich zu Garrincha war Pelé mit Sicherheit der perfektere Fußballer. Garrincha dagegen war der amateurhafteste Spieler, den der professionelle Fußball jemals hervorgebracht hat. Er hatte auch einige körperliche Defekte. Er war mit einem O- und einem X-Bein zur Welt gekommen - das linke Bein war zudem sechs Zentimeter kürzer als das rechte -, und er schwankte mehr, als dass er rannte. Darum hat man ihn auch den "Engel der krummen Beine" getauft. Wahrscheinlich liebten die Menschen ihn so sehr, weil er eigentlich ein Verlierertyp war.
Um ein Haar wäre Garrincha auch nie für die Nationalmannschaft nominiert worden. Denn ein Teampsychologe hatte ihm im Vorfeld der Weltmeisterschaft 1958 attestiert, geistig zurückgeblieben zu sein.
Es ist natürlich Unsinn, daraus ein Problem konstruieren zu wollen, schließlich war Garrincha Fußballer und kein Intellektueller. Der Dramatiker Nelson Rodrigues hat deshalb auch über ihn geschrieben: "Wir alle sind Opfer unseres Verstandes. Garrincha dagegen hat nie nachdenken müssen. Bei ihm läuft alles über den Instinkt. Und deshalb ist er immer als Erster da." Rodrigues hat recht: Garrincha war ein Genie.
Neben dem Spaß an Tricks und Finten auf dem Fußballplatz hatte er eine weitere Leidenschaft, die ihm zum Verhängnis wurde: den Suff.
In Pau Grande, einem kleinen Städtchen eine Stunde entfernt von Rio de Janeiro, wo Garrincha aufwuchs, tranken alle um ihn herum. Auch sein Vater war Alkoholiker. Zu einem wirklichen Problem wurde das für Garrincha aber erst, als sich seine Karriere plötzlich den Bach runterging. Da verlor er den Boden unter den Füßen und trank immer mehr Cachaça.
Glauben Sie denn, dass ein Spieler wie Garrincha unter den heutigen Bedingungen des Hochleistungsfußballs noch mithalten könnte?
Davon bin ich überzeugt. Zumindest, wenn er bereit wäre, sich wenigstens ansatzweise den modernen Trainingsmethoden anzupassen. Dann wäre Garrincha zehnmal besser als damals. Zu seiner Zeit gab es auch noch keine gelben Karten, er wurde ständig getreten, gefoult und am Trikot gezogen, ohne dass das geahndet wurde. Heute würde er von den Schiedsrichtern besser geschützt werden.
Stimmt es, dass Garrincha 1983 an einer Leberzirrhose. Bei seiner Beerdigung haben ihm tausende Fans die letzte Ehre erwiesen. Auf seinem Grabstein steht "Hier ruht in Frieden der, der die Freude der Leute war". Trotzdem soll der Star einsam und ohne einen Cent in der Tasche gestorben sein.
Nein, er war nicht völlig mittellos. Denn es gab immer Menschen, die ihn unterstützt haben - einfache Leute von der Straße, die ihn in die nächste Bar eingeladen und ihn finanziell unterstützt haben, aber auch bekanntere Persönlichkeiten, die seine Freunde waren und ihm Geld gaben. Jahrelang war es vor allem seine Lebensgefährtin Elza Soares, die das Leben Garrinchas organisiert hat. Nur konnte er nicht mit Geld umgehen. Immer wenn er welches hatte, warf er es zum Fenster raus - für Freunde, seine Geliebten, aber auch für die Kinder, die er mit mehreren Frauen hatte.
INTERVIEW: OLE SCHULZ
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