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Dresdner Handydaten-Affäre"Wir brauchen umfassende Aufklärung"

Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) ist von der Sammelwut der Dresdner Behörden betroffen. Sachsens Regierung müsse Rechenschaft ablegen, fordert er.

"Hier geht es um Grundrechtseingriffe": Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse. Bild: dpa
Martin Kaul
Interview von Martin Kaul

taz: Herr Thierse, Sie sind Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Die Dresdner Staatsanwaltschaft dürfte auch Ihre Handydaten abgeschöpft haben, als Sie im Februar gegen Neonazis demonstriert haben. Gehören Sie einer kriminellen Vereinigung an?

Wolfgang Thierse: Ich hoffe nicht, dass der Bundestag schon unter die Rubrik kriminelle Vereinigung fällt. Also: ein klares Nein.

Die Dresdner Ermittler suchen nach extremistischen Gruppen. Beweisen Sie erst mal, dass Sie nicht dazugehören.

Im Rechtsstaat ist einer der elementarsten Grundsätze: Nicht Unschuld, sondern Schuld ist zu beweisen. Ich bin im Februar mit friedlichen Menschen zusammen gewesen, habe mich freundlich mit Polizisten unterhalten, habe niemanden beschimpft. Ich habe nur von meinem demokratischen Recht Gebrauch gemacht, mein Gesicht im Protest gegen Neonazis zu zeigen. Fürs Demonstrieren will ich mich nicht schämen müssen, im Gegenteil.

Am Rande der Demonstrationen wurden auch Polizisten attackiert und Barrikaden errichtet. Gehört das auch zur Demonstrationsfreiheit?

Die Demonstrationsfreiheit hört auf, wo Gewalt beginnt. Deshalb ist natürlich die Polizei zu unterstützen, wo sie Gewaltausbrüche zu verhindern oder im Nachhinein aufzuklären versucht.

Bild: dpad
Im Interview: WOLFGANG THIERSE

Der 67-Jährige ist seit 2005 Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Der Bürgerrechtler trat nach dem Fall der Mauer in die neu gegründete DDR-SPD ein. Ein besonderes Anliegen ist ihm der Kampf gegen Rechtsextremismus.

Dann ist es okay, dass die Dresdner Staatsanwaltschaft mindestens eine Million Telefondaten und über 40.000 Personendaten von Menschen erhoben hat, die im Umfeld der Demonstrationen telefoniert haben?

Natürlich ist das nicht in Ordnung. Denn hier geht es um Grundrechtseingriffe. Es ist ein rechtsstaatlicher Grundsatz, dass die Mittel, mit denen der Staat agiert, verhältnismäßig sein müssen. Es kann aber nicht verhältnismäßig sein, in die Grundrechte von zehntausenden Menschen einzugreifen, um 10, 20 oder 50 Täter zu ermitteln. Wenn so etwas geschieht, müssen in einem Rechtsstaat die Verantwortlichen, in dem Fall der sächsische Innenminister, öffentlich Rechenschaft ablegen. Und das tut er bisher nicht.

Sie haben Sachsens Innenminister Markus Ulbig, CDU, einen offenen Brief geschrieben. Tenor: Sachsens Vorgehen könne zu einer Bedrohung für Bürgerrechte, Demokratie und Rechtsstaat werden. Welche Antwort erwarten Sie vom sächsischen Innenminister?

Wir brauchen endlich eine umfassende Aufklärung. Was haben Polizei und Staatsanwaltschaft getan? Ist hier uferlos vorgegangen worden? Gab es angemessene Entscheidungen? Welche Personen verantworten das? Das interessiert die Öffentlichkeit. Denn wir wissen doch noch gar nicht genug. Ich möchte auch erfahren, wann die betroffenen Personen, die in Mitleidenschaft gezogen worden sind, obwohl sie keinerlei Straftaten begangen haben, informiert werden. Diese Fragen muss der Minister endlich beantworten.

Die sächsischen Behörden finden nichts Schlimmes an ihrem Vorgehen.

Und genau das ist doch bedenklich. Wenn ich es richtig sehe, gibt es in anderen Bundesländern keine vergleichbaren Vorgänge. Das zeigt sich auch an anderen Beispielen. Es scheint mir in Sachsen schon eine besonders bedenkliche Geisteshaltung vorzuherrschen. Diese Geisteshaltung muss kritisch und öffentlich debattiert werden.

Welche anderen Beispiele meinen Sie?

Als ich am 19. Februar in Dresden war, gehörte es zu meinen wirklich erschreckenden Eindrücken, dass dort die gesamte Innenstadt menschenleer war, weil sie abgesperrt war. Selbst eine Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor dem eigenen Gewerkschaftshaus, weit weg von den Neonazis, wurde verboten. Die Grundüberzeugung dort war: Wir müssen die ganze Innenstadt freihalten, damit die Neonazis ungestört demonstrieren können. Es gibt aber nicht nur für Neonazis ein Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit. Ich kenne solche Beobachtungen von anderen Orten in Deutschland nicht.

Die sächsischen Behörden sehen kein Problem, die sächsischen Medien auch nicht. Was müssen Sie sich da eigentlich einmischen, wenn die Sachsen glücklich sind?

Es geht hier ja nicht um mich, sondern um Grundfragen des demokratischen Rechtsstaates. In Sachsen wird scheinbar nach dem Motto vorgegangen: "Wir werten erst mal massenhaft Daten aus, dann werden wir schon ein paar Verdächtige finden." Dass die Mehrheit der sächsischen Bevölkerung das nicht interessiert, hoffe ich nicht. Aber ich weiß auch aus eigener Erfahrung: Rechtsstaatliche Verfahrensweisen müssen auch von betroffenen Minderheiten verteidigt werden.

Die Dresdner Staatsanwaltschaft sagt: Wer sich nichts zuschulden kommen lässt, hat auch nichts zu befürchten.

Entschuldigung, das ist doch wohl selbstverständlich. Alles andere wäre ja auch noch schöner. Aber dieser Satz kann doch nicht die Grundlage dafür sein, alle und jeden einer Verdächtigungsüberprüfung zu unterziehen und keine vernünftigen polizeilichen Grenzen zu beachten. Der Staat darf sich nicht einfach alles erlauben. Selbstbeschränkung bei der Anwendung der Mittel gehört zu den Grundprinzipien eines Rechtsstaates. Das könnten auch sächsische Polizisten, Staatsanwälte und Minister wissen. In der restlichen Bundesrepublik gilt das doch auch.

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10 Kommentare

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  • D
    daweed

    "Ich hoffe nicht, dass der Bundestag schon unter die Rubrik kriminelle Vereinigung fällt."

     

    Die Eidesformel des deutschen Bundespräsidenten, Bundeskanzlers und der Bundesminister nach Art. 56 (und Art. 64) GG lautet: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. (So wahr mir Gott helfe.)“ Der Eid wird vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages (und beim Bundespräsidenten zusätzlich vor den Mitgliedern des Bundesrates) abgehalten.

     

    Naja...

  • BR
    Bleed Ranner

    Auch Ossibär ist nichts Besonderes! Er kann sich auf Immunität berufen. Wenn er sich aber in einem Umfeld bewegt, in dem Straftaten begangen werden, muss er damit rechnen, erkennungsdienstlich behandelt zu werden.

     

    Grüße aus Dresden

  • T
    textmann

    Sachsen,war das nicht dieser "Freistaat" im Südosten, soll er sich doch mit dem anderen Freistaat im Süden vereinen und eine Union bilden. Die ticken sowie so anderes als der Rest im Land.

     

    Mfg Textmann

  • B
    BertB

    Dass das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit (vermeintlich) verfassungskonformer, rechtsradikaler Organisationen wie der NPD höher eingestuft wird als dasjenige von Gegendemonstranten, lässt sich allerdings nicht nur in Sachsen ausmachen:

     

    http://giessenbleibtnazifrei.blogsport.de/

     

    Möglicherweise ist dieses Vorgehen ein bundesweites Phänomen - und das bedeutet, dass die Kritik sich nicht allein auf die sächsischen Behörden beschränken darf.

     

    Diese (neue) Taktik der rigorosen Absperrung kompletter Stadtteile (trotz angemeldeter und genehmigter Kundgebungen seitens der Gegendemonstranten) könnte als Reaktion auf die Unfähigkeit der Polizei, mit riesigen und friedlichen Massenblockaden umzugehen, interpretiert werden.

  • A
    Arne

    Danke, Herr Thierse, für diese deutlichen Worte.

  • V
    vic

    Ich mag ihn ja irgendwie;

    aber seine Einschätzung, der Bundestag wäre keine kriminelle Vereinigung, teile ich nicht.

  • A
    alcibiades

    Wetten, dass sich die sächsischen Granden schon allein gegen Aufklärung dieses gewaltigen Skandals sträuben, weil sie keine Ahnung haben, wie sie die ca. halbe Million Euro Porto im Landespolizeihaushalt rechtfertigen sollen, die anfällt wenn sie die zu Unrecht Überwachten schriftlich unterrichten müssen? In Sachsen herrscht jedenfalls ein wirklich merkwürdiges Rechtsbewusstsein. Wie kann man Leute in prominente Machtpositionen gelangen lassen, die so drauf sind?

    (Was das Porto betrifft: Ich hör schon wieder die Unionspolitiker, die fordern, dass die Leute das gefälligst selber bezahlen müssen. Deutschland, mir graut vor dir.)

  • F
    Frank

    Dresden. Eine Stadt mit Geschichte.

    Als Teil des Herrschaftsgebiets Deutschlands wurde diese Stadt als ein Resultat des 2. Weltkrieges in Schutt und Asche gelegt.

    Damals, als Ergebnis von Wahlen, wurde auf Beschluss der amtierenden Regierung zurückgeschossen. Soweit nichts Neues.

    Das Ergebnis war die Teilung Deutschlands. Herr Thierse ist Zeitzeuge. Herr Thierse lebte im, nach westlicher Lesart, im Unrechtsstaat DDR. Dort gab es Stasi; Das Volk wurde überwacht.

     

    Nazis waren in beiden Teilen Deutschlands politisch unkorrekt.

    Im westen bereits in Regierungsverantwortung, selbstverständlich demokratisch geläutert, im Osten verfolgt.

    Bis heute gelten Nazis, auch wenn eigentlich keiner weiss was das "Nazi" eigentlich ist, als böse. Im wesentlichen kürzt sich die Kritik am Nationalismus auf "Adolf Hitler", der schlechte Führer weil Krieg verloren, und "Judenverfolgung", wertvolle Ressourcen des Staates "sinnlos" geopfert, zusammen.

    Mehr wollen und wissen Demokraten nicht an Nationalismus zu kritisieren.

     

    2011: Demo gegen Nazis, Dresden. Es kommt zu Gewalt von Seiten der Demonstranten.

     

     

    taz: Die Dresdner Staatsanwaltschaft dürfte auch Ihre Handydaten abgeschöpft haben, als Sie im Februar gegen Neonazis demonstriert haben. Gehören Sie einer kriminellen

    Vereinigung an?

     

    Wolfgang Thierse: Ich hoffe nicht, dass der Bundestag schon unter die Rubrik kriminelle Vereinigung fällt. Also: ein klares Nein.

     

     

    1. Da hat nicht der Bundestag demonstriert. Der Bundestag regiert.

    Staatliche Behörden und Organe (Polizei, staatschutz, Justiz, Amtsträger) haben von den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch gemacht.

    Gestern noch hat auch ein Wolfgang Thierse zB. den Unterschied von In- und Ausländern per Gesetz definiert. Noch nie was gehört von Asylgesetzgebung, Schengen, Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis?

     

    Was bewegt einen Wolfgang Thierse, er hat sich nicht zum ersten Mal im Kampf gegen Rechts in Szene gesetzt, an der Demo in Dresden teilzunehmen?

     

    Wolfgang Thierse: Ich bin im Februar mit friedlichen Menschen zusammen gewesen, habe mich freundlich mit Polizisten unterhalten, habe niemanden beschimpft. Ich habe nur von meinem demokratischen Recht Gebrauch gemacht, mein Gesicht im Protest gegen Neonazis zu zeigen. Fürs Demonstrieren will ich mich nicht schämen müssen, im Gegenteil.

     

    Und das hat er getan. Sein Gesicht wurde fotografiert und sein Telefon angezapft, überwacht. Und prinzipiell findet er das gut und richtig.

     

    Wolfgang Thierse: Die Demonstrationsfreiheit hört auf, wo Gewalt beginnt. Deshalb ist natürlich die Polizei zu unterstützen, wo sie Gewaltausbrüche zu verhindern oder im

    Nachhinein aufzuklären versucht.

     

    Früher, da war Spitzelei prinzipiell ein Beweis des "Überwachungssstates".

    Heute gibt es gute Gründe für die staatliche Überwachung. Staatsgewalt ist gut gegen Gewalt wenn diese vom Volk ausgeht.

    Und da sind wir auch schon bei der Kritik eines Wolfgang Thierse an Neonazis.

    Gewalt mit den Mitteln des Staates und in dessen Auftrag sind voll ok. Nur die Neonazis, und im besonderen die Linken, verweigern die Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols. Sicherung der europäischen Außengrenzen, Zuzugsbegrenzung, prinzipielles Mißtrauen und praktizierzter Rassismus? Selbstverständlich, aber streng

    nach demokratisch legitimierten Kriterien!

    Nicht jeder Ausländer ist ein schlechter Ausländer. Die jeweils gültigen, am Menschenmaterial vollzogenen Sortierungskriterien, entnehmen Sie bitte der aktuellen Gesetzeslage und der damit definierten Lebenssituation der Betroffenen (Brot für die Welt!! usw.usw.).

    Staatszugehörigkeit ist ein Titel der von Regierungen als Bewertung der Nützlichkeit des beurteilten "ausländischen" Menschen, verliehen wird.

     

    Insgesamt macht sich ein Wolfgang Thierse Sorgen um das grosse Ganze.

    Und auch hier weiss niemand so recht wo der Unterschied von Demokraten und "Neofaschisten", die Kritik an der Praxis der Rechten zu finden ist:

     

    taz: Die sächsischen Behörden finden nichts Schlimmes an ihrem Vorgehen.

     

    Wolfgang Thierse: Und genau das ist doch bedenklich. Wenn ich es richtig sehe, gibt es in anderen Bundesländern keine vergleichbaren Vorgänge. Das zeigt sich auch an anderen Beispielen. Es scheint mir in Sachsen schon eine besonders bedenkliche Geisteshaltung vorzuherrschen. Diese Geisteshaltung muss kritisch und öffentlich debattiert werden.

     

    Und das wird sie- verhältnismäßig. Verhältnismäßig ist das Sammeln von Daten bei Demonstrationen je nach Beurteilung der Gefährdungslage des Staates.

    Nicht die Interessenslage der Demonstranten, die sind gegen, hier "Nazis", ist von Interesse. Die Sicht der Staatsgewalt, die Bewertung des auf einer Demo geäußerten

    Willens und die demonstrierten Mittel von dessen Durchsetzung werden beurteilt und bewertet.

     

    Das Volk ist Gegenstand der Überprüfung der jeweils aktuellen, geforderten Staatstreue.

    Ausländer an der Haltestelle totschlagen ist da ebenso falsch, wie die Verweigerung der prinzipiellen Unterscheidung zwischen In- und Ausländer.

     

    Demokratischer Rassismus, hat im Gegensatz zu den Befürwortern von dessen Prinzip, den Vorteil der Legitimation. Nur, was wäre wenn, und das ist nicht das erste Mal, wenn das Prinzip von Rassismus per Wahl zu Recht und Würden käme...

     

    Da muss man sich entscheiden.

    Entweder für die Beseitigung der im Eigentum begründeten Basis von Rassismus, oder eben für das kalkulierte, dann aber berechtigte Interesse an der Feindschaft zu "Ausländern".

  • MN
    Mein Name

    Bei der Frage nach »Wer sich nichts zuschulden kommen lässt, hat auch nichts zu befürchten« hätte Herr Thierse in seiner Antwort wohl auch gern an das bekannte Zitat von Erich Mielke (oder welcher Stasi-Funktionär war das nochmal?) erinnern können.

  • ZM
    Zweierlei Maß

    Herr Thierse hat, wie mir eine Betroffene glaubhaft berichtete, eben nicht immer so ein sensibles Gespür und Verständnis, wenn es darum geht, den (Gesundheits- und) Sozialdatenschutz von vom Datenschmutz Betroffenen, in seiner Eigenschaft als BT-Abg., zu bearbeiten.

    Gruß,

    eine Mitbetroffene