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Drehtür Dublin-Zentrum

Die Zustände in Eisenhüttenstadt sind so katastrophal, dass viele Geflüchtete verschwinden – ins Kirchenasyl oder die Illegalität. Wer abgeschoben wird, flieht schnell zurück nach Deutschland

Zum Davonlaufen: Blick in ein Zimmer in „Eisen“, wie Geflüchtete das Lager nennen Foto: Patrick Pleul/dpa

Von Susanne Memarnia

Das offizielle Ziel, mit dem das Dublin-Zentrum in Eisenhüttenstadt Mitte März eröffnet wurde, war schlicht: „Überstellungen“ von Flüchtlingen in andere EU-Länder sollten deutlich schneller werden, 14 Tage wurden veranschlagt. Zugleich sollten die Dublin-Leute nur noch „Brot, Bett und Seife“ bekommen. Mit der Ankündigung wollte die alte Bundesregierung noch einmal punkten im Überbietungswettbewerb der Parteien um die härteste Antimigrationspolitik.

Drei Monate später steht fest: Von schnelleren Abschiebungen kann keine Rede sein. Stattdessen passiert, was Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen von Beginn an befürchtet hatten – und was womöglich auch der eigentliche Zweck der Dublin-Zentren ist, von denen es ein weiteres in Hamburg gibt: Geflüchtete werden durch die Herbeiführung menschenunwürdiger Zustände dazu getrieben unterzutauchen.

60 Personen wurden seit der Eröffnung in das Zentrum eingewiesen, erklärt das Brandenburger Innenministerium auf taz-Anfrage. „Überstellt“, also abgeschoben, wurden in der Zeit nur drei Menschen – nach Polen. Seit Mitte April wurde niemand mehr weggebracht, denn seither seien alle „Rückführungsversuche“ daran gescheitert, so ein Sprecher, „dass die betroffenen Personen untergetaucht sind oder sich im Kirchenasyl befinden.“

Zum Stichtag 16. Juni lebten laut Ministerium 23 Menschen im Dublin-Zentrum. Weit mehr als die Hälfte ist also aus dem Lager geflohen. Dass die Unterbringungszahlen insgesamt so gering sind, erklärt das Ministerium mit den Grenzkontrollen seit Herbst 2023 sowie den verstärkten Zurückweisungen seit Anfang Mai.

Auch Mo und Maria – die Namen sind zu ihrem Schutz geändert – sind raus. Nach drei Monaten in „Eisen“, wie die Flüchtlinge das Lager nennen, haben sie mithilfe von Unterstützern Platz im Kirchenasyl bekommen. Vor ein paar Wochen haben Mo und Maria mit anderen aus dem Dublin-Zentrum in einem offenen Brief die Zustände angeprangert. In der Hoffnung, dass sich für die Leute, die nach ihnen kommen, etwas verbessert, sagt Mo. Das Medieninteresse sei groß, erzählt Sonkeng Tegouffo vom Brandenburger Flüchtlingsrat. An diesem Tag Mitte Juni sind Mo und Maria nach Berlin gekommen, um mit Arte und der taz zu sprechen.

Mo hat eine lange Flucht aus Sudan hinter sich und war zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung von Eisenhüttenstadt auf demselben Gelände untergebracht. Dann kam er in ein Flüchtlingsheim im nahegelegenen Frankfurt an der Oder. Nach vier Monaten wurde er zurückgeschickt – ins neu eingerichtete Dublin-Zentrum. Die Flüchtlinge dort haben ein „D“ auf ihrer Karte, mit der die Anwesenheit im Lager elektronisch erfasst wird. Sie schlafen in gesonderten Gebäuden und haben weniger Rechte.

Mo erzählt: „Die Lebensumstände sind schrecklich. Wir bekommen kein Geld, dürfen die Stadt nicht verlassen. Man geht hungrig ins Bett, das Abendessen ist um halb fünf und besteht nur aus 2 Scheiben Brot. Mindestens einmal die Woche kommt die Polizei, um Leute zur Abschiebung zu holen. Niemand kann richtig schlafen aus Angst.“ Maria bestätigt seine Schilderung. „Die ganze Situation zerstört unsere mentale Gesundheit“, sagt sie.

Auch Mo hat wahrgenommen, dass die Polizei oft nicht die Leute findet, die sie sucht. Seit Kurzem drohe sie daher mit Strafe, wenn die Leute in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr nicht im Heim angetroffen werden. „Sie gaben uns ein Dokument, in dem stand, man lande im Abschiebegefängnis, wenn sie kämen und man sei nicht da.“ Der taz liegt so eine „Nachtzeitverfügung“ in Kopie vor.

Doch selbst solche Bedingungen bringen die Menschen nicht dazu, nach Polen (zurück) zu gehen. „Dort ist alles noch schlimmer“, sagt Maria. Sie war dort vier Monate in einem der berüchtigten geschlossenen Lager. „Es ist wie ein Gefängnis“, berichtet sie. Eine Stunde Hofgang, eine Stunde Internetzugang pro Tag, keine Smartphones, mit denen man Fotos machen könnte.

Erst nach dem zweiten Selbstmordversuch sei sie rausgekommen, in ein offenes Camp in Warschau, erzählt Maria. Doch trotz Arbeitserlaubnis habe sie keinen Job gefunden – und vom Staat gebe es pro Monat nur 20 Euro Taschengeld. Auch das Essen sei in Polen noch schlechter als in Deutschland, „nur eine Scheibe Brot, ganz kleine Portionen“.

Die völlige Perspektivlosigkeit brachte Maria, die allein aus Pakistan nach Europa geflohen ist, nach Deutschland. Beim ersten Mal wurde sie in Frankfurt von der Polizei geschnappt und zurückgeschickt. Nach drei weiteren Monaten im Camp in Warschau wagte sie es erneut und schaffte es bis Berlin, wo sie sich asylsuchend meldete – und in „Eisen“ landete. „Ich gehe nicht zurück nach Polen, niemals“, sagt sie.

Viele Geflüchtete sehen es wie sie und versuchen nach einer Zurückweisung oder Abschiebung erneut über die Grenze nach Deutschland zu kommen. Auch die drei im April aus dem Dublin-Zentrum Abgeschobenen sind nach taz-Informationen wieder in Deutschland. In der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt werden solche Geflüchteten „Drehtürfälle“ genannt.

Mo, Geflüchteter

Bei der Suche nach Hilfe wenden sich viele der im Dublin-Zentrum Gestrandeten an den Brandenburger Flüchtlingsrat, der regelmäßig Workshops und Beratung in „Eisen“ anbietet, wie Sonkeng Tegouffo berichtet. Einigen wenigen gelingt es, ins Kirchenasyl zu kommen, wie Mo und Maria. Manche sagen, sie würden versuchen, nach Großbritannien zu gehen – eine lebensgefährliche Reise, aber dort gelten die Dublin-Regelungen der EU nicht. „Andere verschwinden einfach“, so Tegouffo.

Und genau dies, kritisiert der Flüchtlingsrat, sei das Ziel der Dublin-Zentren: Zustände zu produzieren, die die Menschen nicht mehr aushalten können, sodass sie „freiwillig“ gehen. Nur eben nicht nach Polen, sondern in die Illegalität.

Aber womöglich, befürchtet Tegouffo, sind die Dublin-Zentren in Eisenhüttenstadt und Hamburg nur der Anfang. „Meine Vermutung: Sie testen hier, was man mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen so erreichen kann und ob das ‚rechtssicher‘ ist – und dann wenden sie es bei allen geflüchteten Menschen an.“

Der neue Innenminister von Brandenburg, René Wilke (parteilos), lässt derzeit laut einem Sprecher „intensiv prüfen“, wie es mit dem Dublin-Zentrum weitergeht – weil es „seine Funktion nicht erfüllt“. Dies könnte sich bald ändern: Aufgrund eines Urteils des Berliner Verwaltungsgerichts, dass Zurückweisungen an der Grenze unrechtmäßig sind und jeder Einzelfall geprüft werden muss, steht zu befürchten, dass es in „Eisen“ bald voller wird.

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