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Drachhausen kämpft gegen Granaten

Eine Gemeinde bei Cottbus will sowjetische Schießübungen nicht länger hinnehmen / Fehlschüsse landeten im Dorf / Permanente nächtliche Ruhestörung / „Wir haben nichts gegen die Russen, nur gegen den Krach“ / Protest vor der sowjetischen Botschaft in Berlin  ■  Von Klaus Hillenbrand

Drachhausen (taz) - Im Dorf laufen die Hühner über die Straße. Zehn Meter neben dem Hauptplatz wohnt eine Schar Entenküken in dem kleinen Garten vor einem älteren, baufälligen Holzhaus. Die große Backsteinkirche ist verschlossen. Ein Konsum, ein Getränkestützpunkt, die Post und eine große Gaststätte stehen den Lebenden zur Verfügung, ein Friedhof und das Kriegerdenkmal mit den Namen der gefallenen Drachhausener aus dem Ersten Weltkrieg ist für die Toten da. Drachhausen, so scheint es, ist ein verschlafenes Dorf wie Tausende andere in der DDR-Provinz.

Nachts ist es in Drachhausen mit der Ruhe vorbei. Regelmäßig feuert die Artillerie auf dem nur einen Kilometer entfernten sowjetischen Truppenübungsplatz. „An Schlaf ist nicht zu denken“, so Heinrich Loose, der in der Kneipe mit Freunden beim Bier sitzt. „Die Fenster und Türen klirren von den Druckwellen der Granaten.“ Das Haus eines seiner Tischnachbarn hat von der seit Jahrzehnten währenden Ballerei tiefe Risse bekommen.

Jahrelang hat der Bürgermeister der Gemeinde den Kreis, Abteilung innere Angelegenheiten, um Abhilfe gebeten. „Man hat uns versprochen, daß solche Dinge nicht mehr passieren, aber es ist bei den Versprechungen geblieben.“ Nach der Wende ging ein Protestschreiben mit 300 Unterschriften an den damaligen Verteidigungsminister Hoffmann. Als Antwort kamen nur Ausreden. Jetzt haben die DrachhausenerInnen keine Lust mehr, Eingaben zu schreiben: „Das Maß ist voll.“

Am 5. April flog eine irrgelaufene Granate aus der sowjetischen 152-Millimeter-Artillerie ins Dorf. Im Ortsteil Heide landete das Geschoß 200 Meter von den Füßen des stellvertretenden Bürgermeisters entfernt. Noch am selben Abend machten sich BürgerInnen zum Truppenübungsplatz Lieberose auf, um das angesetzte Nachtschießen zu verhindern: „Wir haben uns einfach vor die Panzer gestellt. Und der General hat dann dem Kommandeur den Befehl gegeben, in dieser Nacht nicht zu schießen“, berichtet der Noch -Bürgermeister. „Am nächsten Tag haben wir dann eine Einwohnerversammlung organisiert und gefordert, daß der General herkommt. Aber, naja, man spürte, er versuchte, die Dinge nur zu begründen. Aber so eine Granate kann doch genauso eines unserer Häuser treffen.“

Der Truppenübungsplatz Lieberose besteht seit 1953. Früher gab es hier einmal ein großes Waldgebiet, das dem Grafen von Schulenburg gehörte. Im Krieg brannte der Wald ab, die Schulenburgs setzten sich gen Westen ab. Die Sowjets kamen. Seitdem wird nördlich von Drachhausen der Krieg trainiert, mit Panzern und Hubschraubern, Granatwerfern, Artillerie und Luft-Boden-Raketen.

Am 9. April ging erneut eine Granate runter, wieder 200 Meter vom Dorf entfernt, diesmal im Wald. Sie explodierte nicht, wohl aber der Volkszorn. „Wir haben noch einmal ein Protestschreiben zusammengestellt und sind nach Berlin gefahren“, erzählt der Bürgermeister. Mit einem Omnibus fuhren am 21.April 45 der 930 EinwohnerInnen von Drachhausen und der naheliegenden Gemeinde Bühlen in die Hauptstadt und demonstrierten vor der sowjetischen Botschaft auf der Straße unter den Linden.

Der Protest der DrachhausenerInnen ging im Trubel der großen Politik unter, keine Zeitung brachte auch nur eine Kurzmeldung. Doch in der Botschaft, so berichtet Lehmann, seien sie freundlich empfangen worden. Allerdings sei die Botschaft nicht ermächtigt, den Befehl zur Einstellung der Übungen zu geben, hieß es dort. Doch habe man den DemonstrantInnen versichert, die Moskauer Regierung über das Problem zu informieren.

Den BürgerInnen Brachhausens geht es nicht um den Truppenübungsplatz, denn der war schon immer da. Es geht ihnen einzig gegen die Ballerei. „Wir haben nichts gegen die Russen, nur gegen den Krach“, heißt es im Dorf. Die Soldaten kommen des guten Essens wegen auch gerne in die Dorfgaststätte. „Zu 95 Prozent benehmen sie sich einwandfrei. Es gibt natürlich immer mal welche, die zuviel trinken.“

Noch hat keine Granate Drachhausen getroffen. Der umliegende Wald dagegen wurde nach und nach immer mehr dezimiert.

Nach der damaligen SED-Regierung hätte sich das Problem Drachhausen bis zum Jahre 2.021 gelöst. Nicht durch ein Verlegen der sowjetischen Streitkräfte, sondern durch Auflösung des Dorfes. Das steht nämlich auf Braunkohle, und in 31 Jahren sollte mit deren Abbau begonnen werden. Schon seit zehn Jahren ist deshalb der Bau von Einfamilienhäusern verboten. Jetzt stehen die Chancen günstig, daß Drachhausen aus der freundlich „Kohleschutzgebiet“ genannten Region ausgegliedert wird.

Heute nachmittag wird in Drachhausen nicht geschossen. Außer Hahnenkrähen ist kein Geräusch zu hören. Truthähne spazieren an der Straße auf und ab. Kaum ein Auto kommt auf der Nebenstraße durch das Dorf. Die EinwohnerInnen (bei den Volkskammerwahlen über 50 Prozent CDU-Stimmen) haben auch ohne Ballerei und Braunkohle noch genügend Probleme. Sie werden ihre nebenberuflich produzierten landwirtschaftlichen Produkte nicht mehr los.

Ob Kaninchenfleisch, Eier oder Milch, die Aufkaufstelle nimmt seit dem Einzug der Marktwirtschaft immer weniger ab. Was jahrelang selbstverständlich war, der Aufkauf privat produzierte Produkte, funktioniert nicht mehr. Was 40 Jahre undenkbar schien, eine Demonstration gegen die sowjetischen Granaten, das ist plötzlich ganz einfach. Drachhausen will sich wehren. Der Kampf gegen Granaten dürfte erfolgversprechender sein als der gegen die Marktwirtschaft.

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