: „Dr. Ruth“
■ betr.: „Kann denn Liebe Sünde sein?“, taz vom 4. 3. 96
Indem ich Euch schelte, paß ich sicherlich wieder in das in Deutschland verbreitete Bild des („über“-)empfindlichen Juden. Allerdings haben wir Grund genug, empfindliche Antennen zu haben.
Nach ihrem Zitat des mittelalterlichen Rabbiners, der den Penis eines Mannes „den großen Friedensstifter des Hauses“ nannte, schreibt Frau Welzel, – als ob sie damit die Meinung der Juden ironisch charakterisiere: „Die Sachlage ist klar: Jüdische Männer besorgen es ihren Frauen besonders gut und sind deshalb ein Garant für den Hausfrieden.“ Daß Juden dies glaubten, folgt nicht aus dem Zitat, das, wenn es auch eine verbreitete jüdische Haltung wiedergibt, sich keineswegs auf den jüdischen Mann beschränkt (und übrigens weiter gedacht auch nicht auf den Mann, denn es gibt auch die Friedensquelle). Diese Schlußfolgerung hat „Dr. Ruth“ sicherlich nicht gezogen. Diese Schlußfolgerung ist auch nicht das allgemeine, geschweige denn das theologische Dafürhalten der Juden. Sie ist ausschließlich Frau Welzels unfreundlicher Versuch, „kritisch“ zu erscheinen.
[...] Statt sich über „Dr. Ruths“ „Auffassung“ von der Bibel zu entsetzen und ihr die Verbiegung zu unterstellen, hätte Frau Welzel lieber mal einfach den Text aufschlagen und ihre eigene Auffassung damit vergleichen sollen. Sie hätte gesehen, daß „Dr. Ruth“ beim Text bleibt und nicht „relativiert“. Frau Welzels eigene Interpretation, daß Lots Töchter für den Beischlaf mit dem Vater etwas anderes als das Überleben ihres Stammes im Sinne hatten, oder daß Bathsheba vergewaltigt wurde, sind vielleicht literarisch interessant – wer weiß (und niemand wird es je wissen können), vielleicht ahnt Frau Welzel sogar durch die Bibel vertuschte historische Fakten – aber im Originaltext sind Welzels Interpretationen nicht angelegt.
Frau Welzel darf ihren eigenen Reim machen oder ihre eigene Version spinnen, aber sie sollte nicht diejenigen der „Auffassung“ und der „Relativierung“ zeihen, die textimmanent bleiben. Frau Welzel darf ihr eigenes Iliad schreiben, aber sie sollte es nicht Homer in die Schuhe schieben oder Homer-Kenner der „Relativierung“ bezichtigen, wenn sie das Original und nicht Welzel zitieren.
[...] Mitch Cohen,
Vorstandsmitglied „Courage
gegen Fremdenhaß e.V.“
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