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Doppelte Tortur

■ Über das juristische Dilemma einer Frau, deren Tochter vermutlich sexuell mißbraucht wurde   Von Sannah Koch

Ein Dilemma, wie es größer nicht sein kann: Die alleinerziehende Mutter Beate Lindnerhat den offensichtlich begründeten Verdacht, daß ihre vierjährige Tochter Miriamvom Vater einer Spielgefährtin sexuell mißbraucht wurde (taz berichtete). Miriam war vor einigen Monaten vom Spielen nach Hause gekommen und hatte der Mutter erzählt, daß sie Schmerzen an der Scheide hätte. Als Beate Lindner dort Verletzungen entdeckte, schilderte ihr das Kind, der Vater ihrer Freundin habe ihr dort „kleine Sachen“ reingesteckt.

Auf ihre Erkundigungen hin mußte die Mutter feststellen, daß sie bei einer Anzeige keine Chance hätte, ihr Kind vor weiterem Streß zu verschonen. Denn ein Strafprozeß würde das Kind einer weiteren Tortur - der wiederholten Verhöre durch Polizei, Gutachter und Richter - aussetzen. Die Mutter verzichtet auf eine Anzeige, bespricht den Fall aber mit Miriams Erzieherinnen und der Ehefrau des mutmaßlichen Täters. Folge: Dieser strengt eine Unterlassungsklage gegen Frau Lindner an. Mit dem Ergebnis, daß die Mutter jetzt über 2.000 Mark Anwalts- und Gerichtskosten zahlen muß.

Vor einem Monat schlug der Richter beiden einen Vergleich vor, in den sie einwilligten. Danach verpflichtete sich Beate Lindner, den Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs öffentlich nicht zu wiederholen (Ausnahme: Gespräche mit Strafverfolgungsbehörden und Ärzten). Dafür tragen beide ihre Anwaltskosten und die Hälfte der Gerichtskosten. „Der Richter hat durchaus signalisiert, daß man die Aussage des Kindes ernst nehmen kann“, so Beate Lindner. Doch wenn sie das Verfahren gewonnen hätte, wäre der Fall zur Staatsanwaltschaft gewandert - und weil sexueller Kindesmißbrauch ein Offizialdelikt ist, hätte diese ihrerseits Anzeige gegen den mutmaßlichen Täter erstatten müssen. „Dann hätte ich wieder in dieser Klemme gesteckt“, so Lindner.

„Eigentlich können wir keiner Mutter guten Gewissens raten, eine Anzeige zu erstatten. Die Strafprozesse sind gräßlich“, bestätigt Monika Borek, Mitarbeiterin von Allerleihrauh, einer Hamburger Beratungsstelle für mißbrauchte Mädchen. Bei den Prozessen würde die Glaubwürdigkeit des Kindes strikt überprüft und die der Mutter „grundsätzlich in Frage gestellt“. Und da sich die Verfahren teilweise über Jahre hinziehen, hätten die Kinder kaum eine Chance, die Tat zu verarbeiten.

Derzeit beobachtet Allerleihrauh mit Sorge, daß sich nach der nur zögerlich enttabuisierten Diskussion über Kindesmißbrauch wieder eine „Gegenbewegung“ etabliert. „Männer reagieren heute in zunehmender Tendenz mit Unterlassungsklagen“, so Borek. Und auch in sogenannten linken Anwaltskollektiven (wie im Fall Lindner) seien immer mehr Anwälte bereit, Täter zu verteidigen. Um den Kindern die Tortur der Zeugenaussage vor Gericht zu ersparen, fordern die Sozialarbeiterinnen eien Orientierung am Vorbild der USA. Dort könne ein einmaliges Gespräch zwischen TherapeutIn und Kind auf Video aufgenommen und dann vor Gericht als Zeugenaussage gewertet werden.

„Ein solches Verfahren würde an den Grundfesten unseres Rechtsstaates rütteln“, wendet der Sprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft, Rüdiger Bagger, ein. Zwar gebe es unter den Staatsanwälten sehr viel Sympathie für eine solches Prozedere, doch die erforderliche Änderung der Strafprozeßordnung auf Bundesebene würde „bestimmt am Widerstand der Rechtsanwälte scheitern“ - die bestünden auf einer mündlichen Vernehmung von Zeugen. Eine kleine Verbesserung, so Bagger, sei jedoch schon eingeführt worden: Auf Antrag der Mutter müsse bei einem Verfahren die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.

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