■ Dokumentation: Rettet die Marktwirtschaft! Verschenkt Euer Geld! Was Chance 2000 dem Wirtschaftsrat der CDU rät: Verehrte Damen, geehrte Herren!
CHANCE 2000 ist ein überkonfessionelles künstlerisch politisches Bündnis, das aber seine Wurzeln im Katholizismus nicht verleugnet. Es versteht sich als „postcaritative Hilfsorganisation“ für Menschen, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind. Anläßlich Ihrer Tagung über die Krise des Sozialstaats, wollen wir mit Ihnen in den Dialog eintreten.
Wir alle sind Menschen, und deshalb gibt es grundsätzlich mehr, das uns verbindet als uns trennt. Auch Sie gehen davon aus, daß der Mensch im Zentrum steht. Und zwar nicht die abstrakte Idee, sondern die konkreten, sterblichen Menschen, die ihren Alltag bewältigen und versuchen, das Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft nach Kräften für sich einzulösen. Auch Sie, so vermuten wir jedenfalls, wollen die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht als Betrugssystem verstanden wissen, und zwar nicht aus moralischen Gründen. Der Markt selbst ist es, der die Wirtschaft zwingt, das Glücksversprechen ernst zu nehmen. Mit Stumpfsinn und Entfremdung ist heute kein Unternehmen erfolgreich zu führen.
Jeder kann sein eigener Unternehmer sein, und Kapitalismus heißt nicht (mehr), daß sich Menschen gegenseitig übers Ohr hauen, sondern daß sie einander helfen. Nichts wird mehr aus Geldgründen instrumentalisiert, nur das Geld selbst wird instrumentalisiert, um intakte Zwischenmenschlichkeit und größtmögliche Problemlösungskapazitäten in einer echten Dienstleistungsgesellschaft zu befördern. Verkaufs- und Wirtschaftsfachleute wie Geoffrey („Abschied vom Verkaufen“) oder Peters („Jenseits der Hierarchien“) haben nachgewiesen, daß Unternehmen nur noch funktionieren, wenn Tugenden gepflegt werden, die über das pure Verwertungsinteresse hinausweisen, wenn das Unternehmen in seiner Organisation, in seinen Produkten und Leistungen für ein besseres Leben steht, und zwar wirklich und nicht nur als Werbespruch. Dies bedeutet: Die Gesellschaft transformiert sich in eine freie Assoziation im Überfluß lebender Individuen, die selbstbestimmt tätig sind und nach ihren Bedürfnissen leben können. (Wollten das nicht auch Marx und das Ahlener Programm?)
So weit, so gut, wir sind dafür. Auch wir denken streng marktwirtschaftlich, risikofreudig und innovativ und rufen uns und Ihnen zu: Alles aufgeben! Fehler machen! Scheitern ist Chance! Nicht Wandel, sondern Revolution, nicht Revolution, sondern permanente Revolution, Unsicherheit! Verrückte Unternehmen für verrückte Zeiten! Wenn Sie diese Imperative, die wir bei Tom Peters, dem umsatzstärksten Wirtschaftsautor aller Zeiten (außer Marx) abgeschrieben haben, wirklich ernst nehmen, läßt sich auch das Problem lösen, das Sie zu dieser Tagung zusammengeführt hat: die Krise des Sozialstaats.
Wir wissen wie Sie, daß die beschriebene glückliche Entwicklung des Kapitalismus leider nur für eine Minderheit gilt. Zwei Drittel bis vier Fünftel der Menschen fallen aus der globalen Marktwirtschaft heraus und stehen unsichtbar im Schatten. Der größte Teil dieser Menschen wird nie mehr eine Arbeit im Sinn traditioneller Lohnarbeit finden. Der größte Teil der Menschheit erscheint schlicht als überflüssig. Das aber darf nicht sein und trifft auch nicht zu. In dieser von allem freigestellten Gegenwelt wird auch gearbeitet, wird Sinn produziert und dem Leben auf den Grund gegangen. Arbeitslosigkeit ist ein Beruf, Arbeitslose sind die unvermeidliche Rückseite des entfalteten Kapitalismus. Wie sie ihr Leben außerhalb des Systems organisieren und selber mit Sinn erfüllen, oder wie sie Sinnlosigkeit aushalten, verdient Anerkennung und Bewunderung. Arbeitslosigkeit muß als Beruf anerkannt werden.
Was uns bei der Lösung dieses Problems blockiert, ist, daß wie zu Max Webers Zeiten dem Geld noch immer ein quasi religiöser Status eingeräumt wird. Nach der Auflösung sämtlicher Glaubenssysteme und festen Orientierungen im Zuge der kapitalistischen Entwicklung und der Aufklärung ist Geld der letzte Wert, auf den hin, wie Heiner Müller sagte, „Orientierung realistisch oder sogar möglich ist“. Eine aufgeklärte Gesellschaft kann sich aber auch diesen letzten Kristallisationspunkt mystisch religiöser Weltsicht, der ausgerechnet im Geld bestehen soll, nicht leisten. Wer sich wirklich klar gemacht hat, daß wir nicht für das Geld da sind, sondern daß wir Geld benutzen, und darüber hinaus weiß, daß uns alle am Ende, schuldig oder nicht schuldig, die Todesstrafe erwartet, weiß auch, daß dieser letzte fixe Glaube an das Geld als solches ihm nicht weiterhilft. Er kann deshalb sein Geld locker wegschmeißen, zumindest das, was er nicht für eigene Investitionen braucht. Die Einsicht in die Hinfälligkeit der menschlichen Existenz mag vor nicht allzu langer Zeit noch zu Lethargie und Verzweiflung geführt haben. Heute ist sie eine Voraussetzung für die Vermenschlichung des Kapitalismus, der jeder metaphysische Glauben, auch der Glauben an das Geld, im Wege steht. Wenn dieser Glaube zerstört ist, können wir leichten Herzens auf die angehäuften Geldsummen verzichten, die wir sowieso nicht gebrauchen können. Was da übrigbleibt, könnte den Arbeitslosen auf der ganzen Welt die materielle Basis zu einer selbstbestimmten Existenz verschaffen.
Wenn es zutrifft, daß Marktwirtschaft nur weiterfunktionieren kann, wenn nicht das Geld, sondern, jawohl, christliche Tugenden dominieren wie Liebe und Vertrauen, Verständnis, Zärtlichkeit, Mut, Großzügigkeit und Opfer, treten wir in ein neues Zeitalter ein. Wer der CDU nahesteht, sollte hier hellhörig werden. Auch für den Reichsten ist es schöner, seinen Reichtum in einer Welt ohne Armut zu genießen als hinter den Mauern eines von der Welt abgeschotteten und von schwer bewaffneten Privatarmeen geschützten Privilegiertenghettos.
Machen Sie es also wie der Philosoph Krates in Athen, der an seinem vierzigsten Geburtstag im Jahre 303 v.u.Z. sein Geld auf dem Marktplatz verstreute und einfach nur noch lebte, oder wie heute Soros, der erfolgreichste Spekulant der Welt, der seine Milliarden in Bosnien zum Wiederaufbau einsetzt, oder wie Wolfgang Joop, der Chance 2000 mit den Zinsen seines Vermögens unterstützt. Schmeißen Sie Ihr Geld weg und retten Sie die Marktwirtschaft! Und vielleicht Ihre sterbliche Seele! Wir möchten wissen, was sie davon halten. Sprechen Sie mit uns. Rufen Sie uns an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen