Dokumentartheater in Moskau: Das Trauma Russlands
Theater gegen das Vergessen: In "Dale recuerdos" lässt der Regisseur Didier Ruiz in Moskau zehn ältere Menschen die Wirklichkeit ihres Landes erinnern.
"Auf dem Bahnsteig sahen wir einen alten Mann mit einem Sack auf dem Rücken, der unter Aufbietung aller Kräfte versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das war unser Papa (…) Als sie Vater erschossen haben, hielt sich Mutter in einer anderen Stadt auf. Auf einmal spürte sie einen heftigen Schlag. Wie ein Blitz durchbohrte dieser ihr Gehirn und sie verlor das Bewusstsein. Später sagte sie, dass sie an diesem Abend verstanden hätte, dass sie ihren Ehemann verloren hatte - und ich den Vater."
Artur Solomonow ist Kulturchef der Moskauer Zeitschrift New Times - Nowoje Wremia.
Diese Worte, ausgesprochen von zehn älteren Menschen, erfüllen die kleine Studiobühne des großen Moskauer Mossowet-Theaters. Vor den Zuschauern stehen keine Schauspieler, sondern zehn alte Menschen. Sie erzählen von ihrem Leben. Gefunden hat sie der französische Regisseur Didier Ruiz, der diese Art von Dokumentartheater neu nach Moskau brachte. Für Ruiz ist es schon die zwanzigste Inszenierung, die er in verschiedenen Ländern mit älteren Menschen gestaltet. Es ist sein erstes Projekt in Russland, für das NET-Festival, das im Dezember endete. Weil aber alle wichtigen Zeitungen darüber schrieben, soll sie vom Haus übernommen werden.
Am Anfang werden den Zuschauern alte Fotografien gezeigt, dann erzählen von genau dieser Sonne, von diesen Leuten und diesen Orten zehn alte Menschen. Es ist wie in Anton Tschechows Theaterstücken - du beginnst zu fühlen, wie die Zeit vergeht - wie alles, was dich umgibt, mit jedem Augenblick zur Vergangenheit wird. Didier Ruiz behutsame Regie macht diese alten Menschen so frei, dass sie das tief Verborgene dem Licht aussetzen. Sie holen nicht nur zurück, was vor mehr als einem halben Jahrhundert geschehen ist. Mir scheint, sie wollen bezeugen, wie die Geschichte dieses Landes wirklich verlaufen ist. Diese Geschichte wurde geprägt von Millionen Menschen, deren "Stellvertreter" auf dieser Bühne stehen und mit einem leichten Beben in der Stimme von den Repressionen, denen die Eltern ausgesetzt waren, erzählen - oder davon, welchen Geruch Mutters Parfüm verströmte.
An keinem der Protagonisten ging die Geschichte spurlos vorüber. Alle kennen die Entgleisungen des 20. Jahrhunderts aus eigener Erfahrung. Diese Inszenierung aber lässt einen nicht nur die Tragödie der Geschichte spüren, sondern auch die des Lebens an sich. Denn die zehn alten Menschen erzählen von all dem Erlebten so, dass man begreift, was Erinnerung ausmacht - es sind die Gerüche und die Farben; es ist das Licht, das einfällt, die Wärme des Ofens und die Kälte, wenn man kein Zuhause hat. So hat sich vermeintlich Unbedeutendes, wie der Geruch in der Autowerkstatt des Vaters, aus irgendeinem Grund unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt - und ist so gleichwertig den großen Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts.
"Mama hat mich im Arm gehalten, ich weinte und schrie, denn ich wusste, ich würde sie nie mehr wiedersehen." Wie oft an diesem Abend fallen diese Worte. Nicht selten kann ein alter Mensch nicht weitersprechen. Der Monolog bricht im dramatischsten Moment ab und darauf folgt Schweigen. Diese Pausen dauern lang, vielleicht vierzig Sekunden. Jeder Schauspieler wird diese zehn alten Menschen um die Gabe, die Köpfe der Zuschauer ohne Worte mit Geschichte(n) zu füllen, beneiden.
So zeigt man jetzt, wo es doch in Russland irgendwie nicht anständig ist, alt zu sein, dass es Menschen gibt, die stärker sind als die Geschichte. Das zwanzigste Jahrhundert gehört der Vergangenheit an, aber diese Menschen sind noch da. Sie stehen auf der Bühne und geraten aufrichtig in Verlegenheit, als sie von den Zuschauern im Saal für ihren Mut, eine ganze Generation "ins Leben zurückzuholen", mit Ovationen belohnt werden.
Aus dem Russischen von Katja Kollmann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!