Dokumentarfilm über NY Public Library: Neue Räume schaffen
Der Dokumentarfilm „Ex Libris. Die Public Library von New York“ von Frederick Wiseman zeigt, wie sich die Bibliothek stets neu erfindet.
Im Foyer des Hauptgebäudes der New York Public Library an der Fifth Avenue hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Vorne auf der Bühne steht der Biologe Richard Dawkins und bricht eine Lanze für die nichtreligiösen 20 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung. Mit nur halb unterdrücktem Grinsen führt Dawkins aus, dass er eigentlich nicht sonderlich kämpferisch sei, sondern einfach nur ein Freund der Wahrheit. So sei das auch gewesen, als er schrieb: „Jeder, der behauptet, ein Kreationist zu sein, ist entweder dumm, unwissend oder verrückt.“
Unnötig zu sagen, dass er sich damit in der evangelikalen Bewegung der USA nicht nur Freunde gemacht hat. Doch vor dem Gewicht des versammelten Wissens von 51 Millionen Medien, die in der New York Public Library ihr Zuhause haben, bekommt der Satz etwas von nüchternem Beharren auf Entlarvung von religiösem und anderem Unfug.
Über drei Stunden hinweg widmet sich der mittlerweile 88-jährige US-Dokumentarist Frederick Wiseman in seinem neuesten Film, „Ex Libris“, der New Yorker Bibliothek, zeigt sie als Netzwerk der Wissensvermittlung und als sozialen Treffpunkt. Nicht selten müht sich die Bibliothek, die zahlreichen Mängel des US-Schulsystems und der sozialen Grundversorgung notdürftig auszugleichen: vermittelt anstelle der Schulen halbherzige Paradigmenwechsel in der Didaktik oder vergibt mobile Hotspots mit Datenvolumen, um möglichst vielen einen Internetzugang zu ermöglichen.
Die Bibliothek und ihre Ableger im ganzen Stadtgebiet von New York wurden um die Jahrhundertwende gegründet, um Wissen unabhängig von den jeweiligen Lebensumständen zugänglich zu machen. Um diesem Geist treu zu bleiben, erfindet sich die Bibliothek wieder und wieder neu, sucht nach neuen Formen, um nutzbar zu bleiben.
„Ex Libris. Die Public Library von New York“. Regie: Frederick Wiseman. USA 2017, 197 Min.
Eines fällt auf an Wisemans Film: die individuelle Wissensaneignung, die Konfrontation einer Nutzerin mit einem Medium, einem Buch, einem Film, einer Tonaufnahme, Karte oder einem Bild, nimmt darin den geringsten Raum ein. Nur wenige Augenblicke filmt die Kamera den Besucherinnen und Besuchern der Bibliothek über die Schulter, lässt die Vielfalt ihrer Recherchen aufblitzen. Die meiste Zeit des Films widmet Wiseman den unzähligen Kursen, die die Bibliothek anbietet.
Leseklubs, Computerkurse, Schulklassenbesuche
Der Kontrast zu „Toute la mémoire du monde“, dem Essayfilm, den Alain Resnais 1956 über die französische Nationalbibliothek drehte, könnte nicht größer sein. Während Resnais die Bibliothek vor allem als Apparat zeigte, konzentriert sich Wiseman auf Nutzer und die Vermittlungsarbeit – die unzähligen Buchvorstellungen, Konzerte, Leseklubs, Computerkurse und Schulklassenbesuche, die die New Yorker Bibliothek anbietet.
Indem Wiseman zwischen die Aufnahmen dieser Aktivitäten Besprechungen der Bibliotheksleitung und Treffen mit der Stadtverwaltung montiert, stellt er heraus, dass all diese unverzichtbar erscheinenden Funktionen der Bibliothek ohne staatliche Unterstützung finanziert werden. Getragen wird sie vielmehr von der Stadt und privaten Geldgebern.
„Ex Libris“ führt eine Reihe von Motiven aus Wisemans letzten Filmen zusammen: 2013 stieß er bei einem Film über die Universität in Berkley auf die massiven Kürzungen in den Bildungsausgaben der USA, 2015 zeigte er, wie sich das Zusammenleben im Stadtviertel Liberty Heights in Queens strukturiert. Dazwischen entstand ein Film über die Londoner National Gallery. „Ex Libris“ greift den im weitesten Sinne bildungspolitischen Strang aus „At Berkeley“, die Kulturvermittlung aus „National Gallery“ und die präzise Beobachtung von sozialen Treffpunkten aus „In Liberty Heights“ auf und verwebt die drei Motive miteinander.
Kosmologien des Alltags
Seit seinem Debüt, „Titicut Follies“, über eine psychiatrische Anstalt des US-Justizvollzugs legen Wisemans Filme, geduldig Institutionen und Ereignisse beobachtend, gesellschaftliche Strukturen offen. Seit den 2000er Jahren verdichten sich seine Filme aus den USA zu reflektierten Krisenanalysen und Kosmologien des Alltags, die sich dem Drang zu medialen Schnellschüssen erfolgreich entziehen.
Wisemans Filme fordern die Zuschauer nicht nur ob ihrer Länge heraus, sondern zwingen durch den Verzicht auf eine Kommentarstimme auch dazu, die Verbindungslinien zwischen dem Gesehenen selbst herzustellen, was bei der Fülle von Preziosen im Detail nicht immer leicht ist. Dafür belohnen sie jedoch mit Einblicken in das gesellschaftliche Gefüge, die der Komplexität ihres Gegenstandes Rechnung tragen und zugleich Bilder der Würde unter widrigen Bedingungen bieten. „Ex Libris“ ist denn auch mehr als das Porträt einer Bibliothek, es ist ein Film über die Voraussetzungen demokratischen Zusammenlebens.
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