Diskussion über Klassengesellschaft: Reichen 140 Euro für Nahrung?
Buchautorin Ulrike Herrmann trifft SPD-Krawallschachtel Thilo Sarrazin. Er findet, Armut sei ein Verhaltensproblem. Sie nennt dies Verachtung der Unterschicht. Der Graben bleibt tief.
BERLIN taz | Nach über einer Stunde wechselt Thilo Sarrazin in die Attacke, in aller herablassenden Freundlichkeit.
Es sei zwar sympathisch, sagt der Bundesbanker und Ex-Finanzsenator, dass Ulrike Herrmann in ihrem Buch viele Zahlen verwende. "Aber das macht verwundbar." Die 140 Euro, die dem Arbeitslosen im Hartz-IV-Satz für Ernährung zugerechnet würden, seien genug. "Kalorien sind nicht das Problem." In Wirklichkeit, erklärt Sarrazin, gebe der deutsche Durchschnittshaushalt nicht mehr für Essen aus, als dem Hartz-IV-Empfänger zustehe.
Aufruhr im Saal, Hohngelächter in den hinteren Reihen: "Das kann nicht sein", entfährt es manchem. Hunderte sind am Donnerstagabend ins Berliner Bücherkaufhaus Dussmann gekommen - längst nicht alle konnten eingelassen werden -, um zu erleben, wie der verhaltensauffällige Sozialdemokrat auf die taz-Redakteurin trifft, die ein Buch über Armut und Reichtum und Umverteilung geschrieben hat. "Hurra, wir dürfen zahlen", heißt es und handelt davon, dass die Mittelschicht sich willig von der Oberschicht ausbeuten lässt und das Unbehagen angesichts sinkender Löhne dadurch kompensiert, dass sie die Unterschicht verachtet.
Reichlich Anschauungsmaterial für die Art dieser Verachtung lieferte Sarrazin im Herbst 2009 in einem Lettre-Interview. Er prägte darin unter anderem den Begriff "Kopftuchmädchen", die von "siebzig Prozent der türkischen" sowie "neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin" ständig produziert würden. Am Donnerstag auf der Dussmann-Bühne macht Sarrazin jedoch zunächst die joviale Gummiwand. Er gibt Herrmann in vielen Dingen - auch der nötigen Vermögensteuer - Recht und schildert sein Gerechtigkeitsverständnis am Beispiel der Frage, wie ungleich die Schönheit über die Frauen verteilt ist.
"Nun muss ich Herrn Sarrazin auch mal angreifen", verkündet da Herrmann. "Wer der Unterschicht vorwirft, Unterschicht zu sein, wer eine Kultur der Unterschicht herbeiredet, sagt damit, die Menschen seien freiwillig arm." Nur dann könne auch behauptet werden, die Unterschicht beute in ihrer faulen Anspruchshaltung die Mittelschicht aus. "Ausbeutung wird umdefiniert", damit keiner merkt, dass die Oberschicht sich der Staatsfinanzierung entzieht, sagt Herrmann.
In der Tat, erklärt Sarrazin, habe Armut seiner Ansicht nach "mit Geld nichts zu tun, sondern mit Verhalten". Er selbst findet, dass er durch eigene Leistung Karriere gemacht hat. Ein Arbeitsloser könne vielleicht nicht ändern, dass er keine Arbeit habe. "Aber man kann morgens aufstehen und den Kindern ein Schulbrot machen."
Der prasselnde Applaus beweist, dass Sarrazin in Berlin reichlich Anhänger haben muss. Vielen tut es sichtlich wohl, dass ein Finanz- und Politprominenter anhand von Nachkriegskategorien diskutiert, was von Arbeitslosen verlangt werden kann. Nicht immer nur diese Zahlen und Prozentsätze, Bemessungsgrenzen und Steuerprogressionen.
Doch ob 140 Euro im Monat genug für Essen und Trinken sind, das kann jeder bei sich im Kopf überschlagen. Das mag nach dem Zweiten Weltkrieg - auch in Kaufkraft gemessen - viel gewesen sein, ist es jetzt aber definitiv nicht mehr, stellt Herrmann klar. "Es ist doch kein Zufall, wenn Guido Westerwelle eine Hartz-IV-Debatte anfängt, wenn er Steuersenkungen haben will", ruft sie. Da hat sie dann wohl auch den Sarrazin-Fanclub auf ihrer Seite.
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