Diskussion bei Paralympics über Regeln: Der Partner als Bremse
Die blinde Italienerin Annalisa Minetti läuft mit ihrem Begleiter einen Weltrekord – und gewinnt trotzdem nur Bronze.
LONDON taz | Merkwürde Dinge spielten sich gestern im Londoner Olympiastadion ab. Die Italienerin Annalisa Minetti gewann mit ihrem Begleiter Andrea Giocondi Bronze über 1.500 Meter. Ihre Zeit von 4:48,88 Minuten bedeutete einen neuen Weltrekord. Und doch ist Minetti nur Dritte geworden. Gold gewann die Russin Elena Pautowa. Sie lief zehn Sekunden schneller als Minetti – aber keinen Weltrekord. Auch die Silbermedaillengewinnerin, die Spanierin Elena Congost, lag fünf Sekunden vor der neuen Weltrekordhalterin. Wie kann das sein?
Die blinde Minetti läuft mit einem Begleiter, ihre Konkurrentinnen waren solo unterwegs. Wieder einmal waren zwei bislang getrennte Leistungskategorien in einem Wettbewerb zusammengefasst worden. Es war ein ungleicher Kampf. Nach dem Lauf beklagte sich Minetti, dass der Unterschied zwischen den Klassen viel zu groß sei, um eine Zusammenlegung, wie sie das Internationale Paralympische Komitee vorgenommen hat, zu rechtfertigen.
„Der Begleiter verlangsamt die Läufer“, erklärte Minetti nach dem Rennen. „Beim Laufen mit Begleiter ist eben alles ein bisschen schwieriger.“ Wer diesen 1.500-Meter-Lauf gesehen hat, konnte miterleben, wie schnell sich die Läuferinnen ohne Begleiter nach dem Start an die Spitze gesetzt haben. Die Athletinnen mit Begleiter liefen zunächst als Paare hintereinander her. Vor einem Überholmanöver müssen die Paare den Rhythmuswechsel erst einmal verabreden. Das klappt nicht immer.
Unfälle sind nicht auszuschließen
Wie schwer das paarweise Laufen ist, war am Beispiel der Portugiesin Maria Fiuza und ihres Begleiters João Campos im gleichen Rennen deutlich zu erkennen. Begleiter Campos kam mit der Seitenbarriere der Innenbahn in Berührung und stolperte. Dabei gab er seiner Partnerin versehentlich einen Schubser, woraufhin die zu Boden fiel. Auch nach jahrelangem Training sind derartige Unfälle nicht auszuschließen. Als sich die beiden nach zehn Sekunden wieder aufrafften, liefen sie unter riesigem Applaus der Zuschauer im vollen Stadion durchs Ziel. Ihr Sportgeist wurde noch einmal groß gefeiert.
Auch die Portugiesen sind der Meinung, dass Kategorien separat bleiben sollten. Die Tschechin Miroslava Sedlackova und ihr Begleiter Michal Prochazka sehen das so. Auch sie stürzten an diesem Wettkampfabend – allerdings erst nach dem Zieleinlauf. Es war die totale Erschöpfung. Hätten sie in einer eigenen Kategorie laufen dürfen, sie hätten sich über eine Bronzemedaille freuen können. So stehen sie als Fünfte in den Ergebnislisten.
Leben von geringen Fördermitteln
Sedlackova kennt ihren Begleiter schon seit 2008. „Sie suchte bewusst nach jemandem, der meine Zeit läuft“, erinnert sich Michal, der schon damals Leichtathlet war. „Sie rief mich auf dem Handy an, und ich wusste erst gar nicht, was ich da antworten sollte. Ich hatte ja kaum eine Vorstellung vom Behindertensport. Sie musste ein zweites Mal anrufen, um mich zu überreden.“ Seit damals laufen sie zwei- bis dreimal pro Woche zusammen. Michal muss dabei immer ein bisschen schneller sein, um nicht zum Hindernis zu werden. Auch er erklärt noch einmal, was das Laufen als Paar so schwer macht.
Für die Tschechen, die sich mit relativ geringen Fördermitteln die Paralympics-Teilnahme gerade einmal so leisten können, ist das Laufen ein Hobby. Beide müssen wochentags arbeiten.
Auch das italienische Paar lebt nicht von den bescheidenen Fördermitteln. Die durchtrainierte Athletin Minetti ist als Schlagersängerin in Italien eine Berühmtheit. Sie hat einst sogar das bekannte Schlagerfestival von San Remo gewonnen. Ihr smarter Begleiter ist Polizist. Hinter ihm liegt eine Leichtathletikkarriere. 1996 startete er bei den Spielen in Atlanta.
Die Sängerin und der Bodyguard – auch so etwas bieten die Londoner Paralympics. Aber die Läuferin hat noch mehr drauf. Sie trat als erste Blinde beim Wettbewerb um den Titel der Miss Italia an. Und Mutter ist sie auch schon. Ein paar Lebensziele hat die 35-jährige Frau also schon erreicht. Nur aus dem Traum vom paralympischen Gold ist nichts geworden – trotz Weltrekord.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut