■ Dieser Mann ist nicht zu fassen: Er ist ein Verwandlungskünstler, ein Chamäleon, ein Luftmensch, der sein Leben als langen, verschlungenen Roman inszeniert hat. Der Ex-Revolutionär und Melancholiker, der Weltreisende und große Dichter, Essayist und Übersetzer Hans Magnus Enzensberger feiert heute seinen siebzigsten Geburtstag.: Hans Magnus, der Magier
Die literarischen Assoziationen schnappen zuverlässig ein. Danzig? Günter Grass. Klütz/Jerichow? Uwe Johnson. Köln? Heinrich Böll. Der Bodensee? Martin Walser. Es gibt Bücher, Bildbände und Filme über den Dichter und seinen Ort, das ist ein beliebtes Genre. Nun aber Kaufbeuren, dazu fällt uns eigentlich nichts ein. Dabei konnten wir vor kurzem darüber die schönen Zeilen lesen: „Am Gartenzaun blüht immer noch der Flieder, / und auf der Wiese steht dieselbe bunte Kuh. / Ja, auch die Metzgerin erkennst du wieder. / Sie warf dir manchmal eine Weißwurst zu.“
Als Heimatdichter aber hat sich uns Hans Magnus Enzensberger nicht eingeprägt. Er war derjenige unter den deutschen Dichtern, der immer unterwegs war und Flaschenpost aus dem Oslofjord sandte, aus den USA, aus Italien, aus Havanna. Er war der früh poetisch Welterfahrene, der uns in den Fünfzigerjahren mit internationaler Lyrik bekannt machte, als Übersetzer, Sammler und Herausgeber. Gerade mal dreißig war er, als er bei Suhrkamp, dem heiligen Verlag der deutschen Nachkriegsliteratur, ein zweibändiges „Museum der modernen Poesie“ herausgeben durfte, das inzwischen längst Klassikerstatus erlangt hat. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dem jungen Mann die Kompetenz dafür abzusprechen. Und als er drei Jahre später, als Dreiunddreißigjähriger, den Büchner-Preis bekam, da gab es zwar heftige Proteste von konservativer Seite, aber wirklich überraschend war die frühe Ehrung nicht.
Vor allen Dingen musste man bei ihm keine Angst haben, dass er mit diesem Preis „angekommen“ war und sich einrichtete als Staatsdichter. Dazu war und ist das „Luftwesen“ (Peter Rühmkorf) zu beweglich, im allerbesten Wortsinn zu nervös. Diese Nervosität ist geradezu ein Markenzeichen. Als Günter Grass vor wenigen Wochen der Nobelpreis zugesprochen wurde, hieß es von einer Seite gönnerhaft, damit sei zugleich die Geschichte der alten Bundesrepublik geehrt und sanktioniert worden. Wer aber diese Geschichte auch als eine von Brüchen, von flatternden Bewegungen und schnellen Coups versteht, für den repräsentiert sie kein anderer Autor so gültig wie Hans Magnus Enzensberger.
Die eigene Existenz in der Doktorarbeit entworfen
Dass er bei seinem Freund und Kollegen Lars Gustafsson schon früh zu einer Romanfigur avancierte („mein Freund E., dieses kluge, reptilartige Geschöpf“), verwundert nicht, denn er selbst hat sein Leben als Roman inszeniert, als einen sehr verschlungenen zudem. „Sein wahres Wesen kennen wir nicht: ein Geschöpf, an dem seine und unsere Einbildungskraft nicht weniger teilhat als die Geschichte . . .“ – das hat er, 26 Jahre alt, in der Einleitung zu seiner Dissertation über Clemens Brentano geschrieben, und daran hat er sich gehalten. „Ein träumerisches Kind“, heißt es weiter, „ein Kobold und Bürgerschreck“ und natürlich auch „ein strahlender Jüngling“: Im Rückblick wird klar, dass hier einer den Entwurf seiner Existenz in seiner Doktorarbeit versteckt hat.
Dennoch lässt sich der Roman dieses Lebens, sein geheimes Movens durchaus verorten: in Kaufbeuren und vor allem in Nürnberg, der Stadt seiner Kindheit im Dritten Reich und der Stadt der Reichsparteitage. Das hat jetzt in seiner exzellenten Enzensberger-Biografie, die zugleich eine kurze Kulturgeschichte der Bundesrepublik geworden ist, Jörg Lau getan. Das Kind Enzensberger, der HJ-Begeisterung und den Nazis herzlich abgeneigt, hat dort die Götterdämmerung des großdeutschen Reiches erlebt, von unten, wenn die alliierten Bomber über Nürnberg kamen, und das im Gedicht „Herbst 1944“ eindrucksvoll nachgezeichnet. Der Sechzehnjährige hat als Dolmetscher für die Amerikaner und später die Engländer plötzlich eine ungeheure Macht, und auf dem Schwarzmarkt entwickelt er zugleich den Geschäfts- und Unternehmersinn, der ihn später im Literaturbetrieb auszeichnen wird und der vorbildhaft sein sollte für alle Autoren. Die Jahre bis zur Währungsreform werden der kurze Sommer der Anarchie, in dem Enzensberger sich fürs Leben rüstet.
Zurück zu Gustafssons Reptilienmetapher, die überraschend hilfreich ist, wenn man bedenkt, dass auch das Chamäleon zu dieser Gattung gehört. Seine Verwandlungsfähigkeit hat man Enzensberger immer wieder vorgeworfen, bis heute. Dabei hat man freilich übersehen, dass sie mit einer sensiblen, vielleicht manchmal übersensiblen Reaktion auf die Zeitläufte gepaart ist. Er gehört nun einmal nicht zu denen, die eines Tages „einen Standpunkt einnehmen“ und für den Rest ihres Lebens darauf stehen bleiben.
Stattdessen war er der große analytische Zeitgenosse und ist es geblieben. Zeitgenossen waren die anderen Autoren seiner Generation auch: Sie unterschrieben Manifeste, gaben Interviews, äußerten Meinungen und protestierten gegen die Macht. Sie waren halt kritische Intellektuelle, wie es ein Schriftsteller, so dachten wir 20 Jahre Jüngeren damals, unbedingt sein muss. Hans Magnus Enzensberger dagegen nahm sich Untersuchungsobjekte vor, die FAZ etwa („Journalismus als Eiertanz“), die „Sprache des Spiegel“, die „Bewusstseins-Industrie“ oder später anhand von sechs exemplarischen Fällen „Politik als Verbrechen“. Dann breitete er das Ergebnis seiner Untersuchungen essayistisch in einer Manier aus, der man vom ersten Satz an die Freude an den eigenen analytischen Fähigkeiten, an der stilistischen Brillanz und an der eleganten Volte anmerkte.
Die im Band „Einzelheiten“ versammelten frühen Essays haben beim Wiederlesen nach fast 40 Jahren keinerlei Patina angesetzt. Der Grund ist einfach: Hier hing keiner eine Gesinnungsfahne aus dem Fenster, sondern er richtete seinen kühlen Blick auf ein Objekt, zerlegte es und zeigte uns dessen Innenleben. Das ist so geblieben bis heute, und bis heute fragen wir uns anlässlich eines neuen Essays im Spiegel oder in der FAZ zwar auch: Was wird er uns sagen?, viel mehr aber noch: Wie wird er es sagen? Oft genug sagte er es so, dass es vielfältig missdeutbar war. Im Kursbuch 15, so hält sich hier und da noch immer hartnäckig das Gerücht, habe er den Tod der Literatur ausgerufen. Dass dem nicht so war, lässt sich in jenem Kursbuch nachlesen. Was den Tod der Literatur angeht, heißt es lapidar: „Alte Gewohnheiten sind zäh.“
Zu seinen zähen alten Gewohnheiten gehört es bis heute, weiterhin Gedichte und Essays zu schreiben und immer neue Projekte zu beginnen. Nach dem Kursbuch kam Transatlantik, das eine deutsche Spielart des New Yorker werden sollte. Da hatte er schon den „Untergang der Titanic“ und der eigenen kubanischen Illusionen besungen und war frei für die hedonistische Normalität der Achtziger. Und vor wenigen Jahren hat er mit dem „Zahlenteufel“ eine Erzählung über die Mathematik vorgelegt, die ich mir schon 40 Jahre früher gewünscht hätte.
Dass einem solchen Seismografen des Zeitgeistes, der dazu noch überaus gescheit ist, vielfaches Misstrauen entgegengebracht wird, ist verständlich. In ihm haben wir einen, auf den können wir nicht bauen. Wer allerdings nur das Luftwesen und den fliegenden Robert sieht, geht ihm auf den Leim und übersieht die deutlichen Spuren von Melancholie, die nicht erst in den Gedichten der Neunzigerjahre zu finden sind. An seinem Geburtstag mögen wir davon nicht sprechen. Wir bauen auf ihn, trotz allem. Jochen Schimmang
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