Dies vielstimmige Leben

20. JAHRHUNDERT Ein Mann, der Christ und Jude zugleich sein wollte: Ljudmila Ulitzkajas Roman „Daniel Stein“

Wüsste man nicht, dass dieser Lebenslauf einen realen Hintergrund hat – man hielte das alles hier schon für sehr übertrieben

VON NATASCHA FREUNDEL

Auf der ansonsten ruhigen Jerusalemer Buchmesse hallte plötzlich die Reibeisenstimme eines Seemanns durch die Gänge. Ljudmila Ulitzkaja stellte am russischen Stand ihren neuen Roman vor. Später erzählte die Moskauerin, dass sie in Jerusalem immer Bekannte treffe, gerade eben ihre alte Deutschlehrerin, nach vierzig Jahren. Als Kind habe die Frau mehrere Todeslager überlebt. Von dem Wiedersehen, so Ulitzkaja, zitterten ihr die Knie. Solche Erschütterungen erlebe sie oft in Israel.

Das war 2007. Nun ist der Roman unter dem Titel „Daniel Stein“ ins Deutsche übersetzt und lässt den Leser israelische Begegnungen dieser Art nacherleben. Verschiedenste Figuren kommen zu Wort, alle geprägt von Krieg, Todesangst, Exil, Nazismus, Kommunismus und Zionismus. Die sagenhafte Biografie des Karmelitermönchs Bruder Daniel steht dabei im Mittelpunkt. Würde Ulitzkaja nicht erklären, der Lebenslauf ihres Daniel Stein sei beinah identisch mit dem Lebenslauf des 1922 in Polen geborenen Oswald Rufeisen, den sie persönlich kannte, man könnte meinen, sie habe doch etwas übertrieben. Ein Jude, der erst für die Gestapo und dann für den sowjetischen Geheimdienst NKWD als Dolmetscher gearbeitet haben soll? Der in Weißrussland 300 Menschen die Flucht aus dem Getto ermöglichte, sich dann in einem Nonnenkloster versteckte, wo er sich zum Katholiken taufen ließ? Der zu den Partisanen floh, nach Kriegsende in Polen Mönch wurde und 1959 seinen Sehnsuchtsort erreichte: Israel?

Anfang der Sechzigerjahre soll der Fall des jüdischen Karmelitermönchs Bruder Daniel durch die Presse gegangen sein. Vor Gericht musste er seinen Anspruch verteidigen, in Israel als Jude anerkannt zu werden. Doch die Jerusalemer Richter befanden, ein – zudem praktizierender und missionierender – Christ könne nicht zugleich Jude sein. Dabei wollte Rufeisen genau das sein: Jude und Katholik, Zionist und Nachfolger Jesu. Auf dem Carmel-Berg bei Haifa arbeitete er an der Wiedererstehung der christlich-jüdischen „Urgemeinde“ Jerusalems, der „Kirche des Jakobus“, in der Juden und Christen noch gemeinsam beteten. Nach seinem Tod 1998 zerfiel die kleine Gemeinde.

Der „literarischen Wahrhaftigkeit“ überlässt Ulitzkaja das letzte Wort vor der „historischen Wahrheit“. Und diese Literatur muss fragmentarisch sein, hat man den Eindruck. Ulitzkaja lässt reale und erfundene Menschen erzählen, die Bruder Daniel kannten oder gut gekannt haben könnten. Chronologisch hin und her springend zitiert sie aus Tagebüchern und Briefen, Vorträgen und Reiseprospekten, aus Gesprächsprotokollen und Archivdokumenten des NKWD, aus Zeitungen und Zetteln. Nach jedem der vier Teile des Romans ist ein Brief der Autorin an ihre Freundin und Agentin Elena Kostioukovitch über den aufreibenden Arbeitsprozess wiedergegeben. Fakt oder Fiktion? Es spielt keine Rolle, so überzeugend sind Ulitzkajas Sätze.

Mit jeder ihrer markanten Figuren wird man bald vertraut. Da ist etwa die schöne und neurotische Ewa Manukian in Boston, die Dezember 1942 im weißrussischen Wald bei den Partisanen in einer Erdhöhle zur Welt kam. Immer friert sie, immer hasst sie ihre stahlharte kommunistische Mutter, die durch Daniel Steins Hilfe aus dem Getto fliehen konnte, nur um ihre Kinder alsbald sowjetischen Kinderheimen zu überlassen. Oder Hilda Engel, nomen est omen, aus Bayern: 1964 bewirbt sie sich bei Pater Daniel in Israel als Pastoralreferentin, aus Scham über ihren Nazi-Großvater. Dieser unermüdlichen Hilda, groß und flachbrüstig, schenkt Ulitzkaja die Liebe des christlichen Arabers Mussa, der beim Aufbau der Kirche mit anpackt. Sehr zart wächst diese Zweisamkeit; über zwanzig Jahre später fällt Mussa der ersten Intifada zum Opfer.

Russisch-orthodoxe Mütterchen, ausgemergelte Wahrheitssucher in der Wüste, auch der polnische Papst höchstpersönlich kreuzen den Weg des Karmelitermönchs Daniel, den Ulitzkaja immer mit Humor wie einen Fels in der Brandung darstellt. Unbeirrt übersetzt er Christentum und Judentum und predigt: „Gott hat niemand je gesehen. Im Menschen muss man Gott sehen. Die Kirche ist den Juden gegenüber schuldig!“ Ein naiver Narr, ein Idealist, ein Visionär? Alles zusammen. „Daniel Stein“ ist einer der seltenen Glücksfälle in der Weltliteratur, in der Dichtung und Wahrheit Hand in Hand gehen. Die Realität liefert das Rätsel, die Literatur den Schlüssel, und die Welt, die sich auftut, ist vielstimmig und vielgestaltig, komplex, abgründig und liebenswert zugleich. Eine andere gibt es nicht.

■ Ljudmila Ulitzkaja: „Daniel Stein“. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser, München 2009, 496 Seiten, 24,90 €