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■ Die westlichen Medien zeigen die tschetschenischen Rebellen gern als exotische Fanatiker. Ein falscher EindruckWie Feindbilder entstehen

Als der russische Film über den Krieg in Tschetschenien „Gefangen im Kaukasus“ zum erstenmal im Ausland gezeigt wurde, wunderten sich viele Zuschauer, warum alle tschetschenischen Freischärler in diesem Film fließend Russisch sprechen. Denn die Massenmedien stellen sie oft als wilde, fanatische Muslime dar, die einen Heiligen Krieg gegen die russischen Eroberer führen. In Wirklichkeit waren die Tschetschenen bis vor kurzem in die sowjetische Vielvölkergesellschaft fest integriert. 74 Prozent von ihnen sind zweisprachig. Bis zum Ende der Perestroika lebte fast ein Drittel der ethnischen Tschetschenen in den verschiedensten Regionen der UdSSR, vom Fernen Osten bis zu den nördlichen Gebieten hinter dem Polarkreis. Sie arbeiteten in der Erdölförderung und waren auch als qualifizierte Bauarbeiter sehr geschätzt.

Die meisten tschetschenischen Kommandeure sind ehemalige Sowjetoffiziere, viele von ihnen, darunter Moskhadow, Lebeds Gegenüber bei den Friedensverhandlungen, haben vor wenigen Jahren in Afghanistan gegen die islamischen Mudschaheddin gekämpft. Der erste Präsident Tschetscheniens Dudajew soll in Afghanistan flächendeckenden „Täppischbombardements“ gegen muslimische Dörfer angewandt haben – eine Taktik, die später gegen tschetschenische Zivilisten verwendet wurde. Die Sozialisation in der sowjetischen Armee ist der Grund, warum die tschetschenischen und die föderalen Militärs viel leichter als ihre politischen Führer eine gemeinsame Sprache finden.

Die sowjetische Sozialisation beschränkte sich aber nicht nur auf die Armee. Sie war eine Grundlage, die das Zusammenleben der Nationalitäten in der UdSSR trotz vieler nationalen Probleme und Aversionen ermöglichte. Noch vor dem Zerfall der UdSSR setzten zwei parallele Prozesse ein: die Entwicklung nationaler Identität bei den Tschetschenen und die zunehmende Distanzierung der Russen von den anderen sowjetischen Völkern. Die gegenseitige Distanzierung war die wichtigste Voraussetzung des Konflikts. Die Motive beider Konfliktparteien waren allerdings sehr komplex. Der Streit um die Kontrolle über die tschetschenische Erdölproduktion, die Befürchtung der föderalen Führung, andere Teilrepubliken könnten dem Beispiel Tschetscheniens folgen und das Machtstreben der neuen nationalen Elite in Tschetschenien – das alles war für die Politiker und Interessengemeinschaften wichtig genug, um einen Krieg anzufangen.

Doch auch all diese Motive und Interessendivergenzen können weder Ablauf noch Ausmaß und Ergebnis des Krieges erklären. Die tschetschenischen Ölraffinerien, die einst vierzig Prozent des Flugzeugtreibstoffs in der UdSSR produzierten, sind heute zerstört. Die Kontrolle über sie spielt so gut wie keine Rolle mehr. Unter dem Vorwand, Tschetschenien in die Föderation zurückzuholen, hat Moskau alle Tschetschenen pauschal als Feinde und nicht als Bürger des föderalen Staates behandelt. Sogar die meisten ehemaligen Verbündeten des Kreml treten nach dem Krieg für die Unabhängigkeit ihrer Republik auf.

Die Ursachen des Krieges sind kompliziert. Seit der Perestroika identifizierten sich immer mehr Tschetschenen mit ihren Vorfahren, die gegen das zaristische Reich gekämpft hatten. So entstand eine tschetschenische Identität, die auf der Abgrenzung von Rußland basierte. Der zentrale Platz in Grosny wurde nach dem ersten tschetschenischen Widerstandskämpfer Scheich Mansur umbenannt. Die ersten Briefmarken der Tschetschenischen Republik zeigen Scheich Mansur, Iman Schamil, den islamischen Führer aus dem 19. Jahrhundert, und den Präsidenten Dudajew, gewissermaßen als deren aktueller Nachfolger. In Wirklichkeit richtete sich Imam Schamils Heiliger Krieg allerdings gar nicht gegen russische Eroberer, sondern gegen kaukasische Völker. Solche Fakten wurden nun durch die Illusion verdrängt, daß die Tschetschenen seit Jahrhunderten einen gasavat, den Heiligen Krieg, gegen die russischen Gottlosen geführt hätten, der nun weitergehen müsse.

Zur gleichen Zeit entstand auch in Rußland ein neues Feinbild. Tschernije, Schwarze, nannte man die Besucher aus dem Kaukasus. Sie galten als unkultiviert, geldgierig und kriminell. Nach dem Putschversuch 1993 begann die Moskauer Polizei mit Aktionen, die an ethnische Säuberungen erinnerten. Wer irgendwie nicht russisch aussah, wurde durchsucht, festgenommen, geschlagen und oft aus Moskau ausgewiesen. Nach der Invasion in Tschetschenien konzentrierte sich die Verfolgung mehr und mehr auf die ethnischen Tschetschenen.

So war die russische Politik schon vor dem Krieg von nationalistischen Vorurteilen geprägt. Das machte die Anwendung schwerer Waffen gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung möglich: Die föderalen Streitkräfte verwendeten die gleichen Taktiken, mit denen sie sich in Afghanistan blamiert hatten. Russische Soldaten nannten die Tschetschenen duchi wie früher die Afghanen, obwohl diese „Banditen“ von ihren ehemaligen Kriegskameraden geführt wurden.

Beide Seiten werden von widersprüchlichen und irrationalen Motiven bewegt. Während der Kreml auf die territoriale Integrität Rußlands besteht, fürchtet die russische Öffentlichkeit die Tschetschenen, die sich womöglich für den brutalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung rächen könnten. So fordern Leserbriefe in den seriösen Moskauer Zeitungen die Errichtung von Grenzanlagen um Tschetschenien herum, um die verhaßten „Schwarzen“ fernzuhalten. Die Tschetschenen ihrerseits betrachten die Unabhängigkeit von Rußland als Frage des Überlebens, wollen sich aber zugleich überall in der Föderation frei bewegen und auch arbeiten dürfen, wie es zu Sowjetzeiten gewesen ist.

Lebed Plan, über die Unabhängigkeit Tschetscheniens erst in fünf Jahren zu entscheiden, war deshalb die einzige Möglichkeit, den Krieg einzustellen. Das bedeutet aber keinen dauerhaften Frieden. Gestern haben bei Grosny stationierte tschetschenische und russische Truppen aufeinander geschossen. Beide Seiten melden keine Verluste. Boris Schumatsky

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