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Die vorgetäuschte Erlösung

■ Vortrag im Völkerkundemuseum über die jahrhundertealte „Vedische Mathematik“ und deren Popularität im heutigen Indien

Das klang ja doch recht spannend: Ein Vortrag des Hamburger Indologen Professor Doktor Albrecht Wezler über „Vedische Mathematik“, ein wissenschaftliches Beleuchten und Hinterfragen religiös-mythischer Glaubensgrundsätze des zeitgenössischen Indiens. Auf dem Subkontinent herrscht unter anderem die Vorstellung vor, daß der Veda – altindisch „Wissen“; die im orthodoxen Hinduismus als Offenbarung geltende, alt-indische Weisheitslehre – eine „Antizipation moderner westlicher Naturwissenschaften“ sei. Mythos oder Wirklichkeit?

Vor rund 30 indiophilen Zuhörern, die am Donnerstag den Weg ins Völkerkundemuseum gefunden hatten und wahrscheinlich weniger der Kaste der Laien angehörten als der Verfasser dieser Zeilen, bezog sich Professor Wezel vor allem auf das 1965 erschienene Werk Vedic Mathematics und dessen Rezep-tion. Der Autor, Jagadguru Swami Sri Bharati Krsna Tirthaji Maharaja (1884 bis 1960), kurz „der Swami“, einer der einflußreichsten Philosophen Indiens, ist für Wezel „ein Brahmane, der ein Faible für Mathematik hatte“.

Die in Vedic Mathematics angeblich gesammelten 15 neu- oder wiederentdeckten mathematischen Formeln des Veda stünden in keinem direkten Zusammenhang zu den tatsächlichen heiligen Offenbarungen und seien eher eine „Erfindung, Fälschung und Mystifizierung“ des Verfassers, der hier lediglich schulmathematischen Rechnungen einen vedischen Anstrich verpaßt habe. Interessanter war deshalb die soziologische Frage, weshalb ein solches Werk allein aufgrund seines pseudo-vedischen Charakters eine Welle der Euphorie und blinden Begeisterung unter der indischen Bevölkerung auszulösen vermocht habe.

Professor Wezel klärte auf, daß der Veda in Indien als „erlösendes Zentrum der Identifikation und des Selbstverständnisses“ gelte, da er ein Wissen aus einer Zeit verkörpere – die ältesten Teile des Vedas entstanden noch vor dem 1. Jahrtausend vor Christus –, in welcher die indische Welt noch „in Ordnung war“.

Die Popularität vedischen Gedankenguts im heutigen Indien beruhe auf einer Mythologisierung, die einen spezifisch indischen Minderwertigkeitskomplex kompensieren helfe: Sie trage dazu bei, die Wunden zu heilen, die dem indischen Volk in Zeiten der Kolonialisierung zugefügt wurden. Zudem legitimiere sie die Übernahme fremder kultureller Errungenschaften – schließlich sei ja alles Weltwissen im Veda bereits vorweggenommen. Ein Mythos mit Wirklichkeitsrelevanz also.

Die allgemeine indische „Anfälligkeit für Irrationalitäten“ sei insofern nicht denunziatorisch der Lächerlichkeit preiszugeben, wie es häufig aus eurozentristischer Sicht heraus geschieht. Vielmehr ging es Wezel darum, ein Verständnis für diese, westlichen Hirnen eher fremden Aspekte indischer Kultur zu erzeugen.

Auch mittels Relativierungen gegenüber hiesigen Verhältnissen: Umfragen hätten ergeben, daß jeder siebte Deutsche an den Teufel glaube. Was das wohl über die deutsche Kollektivpsyche verrät?

Christian Schuldt

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