piwik no script img

Die verordnete Feier einer Revolution

In der Sowjetunion wird heute die Oktoberrevolution auf einen persönlichen Erlaß Gorbatschows hin mit Militärparaden gefeiert. Doch im Baltikum ist der Feiertag abgeschafft, und in Georgien will die Regierung die Parade verstecken  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Wie bist du gelaunt Moskau?“ — fragte in schweren Balkenlettern auf der Titelseite gestern (am Dienstag) die Tageszeitung 'Moskowskij Komsomoljez‘. Die Antwort zum Jahrestag der Oktoberrevolution muß in allen politischen Lagern lauten: „beklommen“. Tiefe Zweifel, ob das historische Datum noch als Wendepunkt in Richtung Fortschritt betrachtet werden kann, machen sich breit. In einem Aufruf in der 'Iswestija‘ versuchte gestern der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Alexij, eine Formel zu finden, um die verschiedensten Wertungen der Sowjetbürger zu versöhnen: „Ja, das Jahr 1917 ist in der Geschichte Rußlands eine bittere Seite... Aber weder eine überflüssige noch leere noch sinnlose Seite.“

Nicht nur daß der Festtagstisch im Zeichen der Wirtschaftskrise ungedeckt bleibt, auch die Panikmache der Militärs hat viele Hauptstädter verdrossen.

Mitte September landeten vor der Stadt vier schwerbewaffnete Fallschirmdivisionen. Niemand vermochte glaubwürdig zu erklären, warum? Vor diesem Hintergrund steigerte sich die Empörung vieler Moskauer über die geplante Militärparade, im Stadtsowjet wurde sie als „Ausbruch überschäumender Verschwendungssucht“ gegeißelt.

Doch Präsident Michail Gorbatschow wollte auf die Muskelschau nicht verzichten. In einem präzedenzlosen persönlichen Erlaß ordnete er letzten Monat die Durchführung von Militärparaden im ganzen Lande am 7.November an und machte somit die Oktoberfeiern zum Testfall für seine persönliche Macht.

Das Resultat: Die Parlamente der baltischen Republiken und Armeniens schafften den Feiertag kurzerhand ab, in Tbilissi, Georgien, beschloß die Regierung, die Parade auf einem versteckten Truppenübungsplatz stattfinden zu lassen, und in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku sowie im geprüften Berg-Karabach hatten gar die Militärkommandanten selbst ein Einsehen und verzichteten. Überall, wo die lokalen Machtorgane sich ganz oder auch nur teilweise hinter den Erlaß stellen, sind blutige Zusammenstöße nicht ausgeschlossen. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew beabsichtigt die Volksfront „Ruch“, die Parade mit „allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterbinden“.

Besorgt hatte das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR schon am 1.November empfohlen, für den heutigen Tag von Paralleldemonstrationen in Moskau abzusehen. Die oppositionellen Gruppen der Hauptstadt bestärkten sich nun erst recht in der Entschlossenheit, die „Kommunisten nicht unwidersprochen durchmarschieren zu lassen“. Und der liberale Moskauer Stadtsowjet beeilte sich, für diesen Tag gleich drei „von unten“ organisierte Demonstrationen zu genehmigen.

Kurioserweise hatte als erster Moskaus Parteichef Jurij Prokowjew eine Parallelkundgebung angeregt. In kurzem zeitlichen Abstand zur Militärparade wird heute ein breites Spektrum von Gruppen über den Roten Platz ziehen, die ihren Glauben an die marxistischen Ideale noch nicht verloren haben. Von der Jugendorgnisation „Komsomol“, deren Programm zufolge die KPdSU auch als Oppositionspartei denkbar ist, bis zu der extrem reaktionären „Vereinigten Front der Werktätigen“.

Zu den Veranstaltern der zweiten Demonstration gehören die mächtigen Moskauer „Wählervereinigungen“ und die „Gesellschaft Memorial“. Als „Trauerprozession“ wollen sie — unter Meidung des Brennpunktes Roter Platz — zum Wohnhaus des verstorbenen Andrej Sacharow ziehen. Zu Beginn wird Dissidenten- Pater Gleb Jakunin eine Messe für alle Opfer der 1917 eingeleiteten politischen Entwicklung lesen.

Nicht Zeit der Besinnung, sondern des Handelns sei es, meinen dagegen die Teilnehmer der dritten Demonstration, die deshalb auch bewußt eine Route über den Roten Platz bis zum Manege-Platz gewählt haben. An der Spitze werden radikal gesinnte Deputierte marschieren, wie die Untersuchungsrichter Gdljan und Iwanow und der reuige KGB- Ex-General Kalugin. Und natürlich sind diese — ebenso wie die Organisatoren der zweiten Demonstration — überzeugt, daß ihnen die Mehrheit der Moskauer folgen wird.

Die Wahl der Kundgebung ist für die Moskauer Oppositionellen eine Geschmacksfrage. Die abgestimmten Parolen gehören zum Standardinventar: an der Spitze die Forderung nach Rücktritt des Präsidenten und des Obersten Sowjet. Aber gerade auf der zuletzt beschriebenen Veranstaltung sind aggressivere „Neuschöpfungen“ zu erwarten. „Die Ceaucescus des Kreml aus den Sesseln auf die Pritschen“, lautete ein Vorschlag.

Überraschungen sind auch seitens der in der Stadt zusammengezogenen Sicherheitskräfte denkbar. Bei der letzten Großkundgebung, zum 1.Mai dieses Jahres, hatten sich bis an die Zähne bewaffnete, blutjunge Rekruten der Armee im Kaufhaus GUM und hinter der Basiliuskathedrale gedrängt. Ein Funke, der diesen menschlichen Zunder hätte zum Explodieren bringen können, blieb damals aus.

An gar keiner Kundgebung will deshalb der beliebte Oberbürgermeister Popow teilnehmen, offensichtlich auch um eine Konfrontation zwischen ihm und Gorbatschow zu vermeiden. Ihm hatten am 1.Mai die Demonstranten zugejubelt, die den Präsidenten ausbuhten. „Wird Popow zur Geisel der KPdSU“, kommentierte 'Noskowskij Komsomoljez‘ jetzt ironisch den selbstverordneten Hausarrest und schloß: „Der Oberbürgermeister von Moskau ist schlimmer dran als irgendein Gouverneur.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen