WIEDERGELESEN: MATTHIAS CLAUDIUS, ABENDLIED : Die verlorene Unschuld des Matthias C.
Die Zahl der Parodien ist Legion, denn dieses Gedicht kennt nun echt jeder. Aber selbst die gelungensten, etwa die von Peter Rühmkorf, reichen nicht an diese eine Rezitation von Martin Heldt heran: In Wolfgang Staudtes Spielfilm „Rosen für den Staatsanwalt“ spricht er, in der Titelrolle, die erste Strophe des Abendlieds von Matthias Claudius, des Idealgedichts deutscher Empfindsamkeit. Er tut das am heimischen Herd, mit aufgesetzter Brille – und hinreißend falscher Betonung.
„Der Mond ist“, schnarrt Oberstaatsanwalt Wilhelm Schramm, „aufgegangen die goldnen Sternlein“ – ach!, völlig unmöglich. Der Rezitator ist ein Nazi-Jurist, der in der jungen BRD seine Karriere nahtlos fortsetzt, das Idyll ein verlogenes Verdrängungsbiotop. Und dafür ist, in Heldts Lektüre, das Abendlied zum vollendeten Symbol geworden.
Sie resümiert damit zugleich die Rezeptionsgeschichte des Gedichts. Die ist eine ewige Reihe von Verhackstückungen, Umbiegungen, Verschubladisierungen und Vereinnahmungen – es soll sogar hessische Literaturwissenschaftler gegeben haben, die dieses opus summum des 1740 bei Lübeck geborenen, bekennenden Wandsbeckers Claudius in sein unglückliches Darmstädter Jahr verlegen wollten.
Gedichte stauben ein, jede Intervention haftet ihnen an wie Grünspan oder auch ein öliger Schmutzfilm, unter dem sich die polarisierende Kraft und der Glanz kaum erahnen lassen, den sie in ihrer Entstehungszeit entfalten konnten. So ist das nach „Alle meine Entchen“ populärste deutsche Lied längst eines der unbekanntesten – wenn das Kriterium Texttreue gilt. Und wie viele Strophen hat es nochmal?
Sieben natürlich, so viele, wie es Wochentage gibt. Wobei: Fünf reichen doch, fand Johann Gottfried Herder, als er das Poem seiner Volkslieder-Anthologie einverleibte – und schnitt die beiden letzten ab, die morbid-religiösen: sanfter Tod und kalter Hauch. Kurz darauf verhalfen andere den unschuldigen Sextetten zu einer Melodie, ihrem Gott zum großen O und verklappten sie dann im Evangelischen Gesangbuch. Dabei eignen sich die ersten drei Strophen nur bedingt für kirchliche Zwecke: Sie entfalten ein sensualistisches Naturtableau, bis ganz allmählich eine deutende Bewegung einsetzt. Die spielt wissenschaftliche Wahrheit gegen den Augenschein aus – und benennt sie als den eigentlichen ästhetischen Wert: „Seht ihr den Mond dort stehen? – / Er ist nur halb zu sehen“, heißt es. „Und ist doch rund und schön.“
Hier hat Claudius noch Teil an jener milden Spielart der Aufklärung, die Glauben und Vernunft zu versöhnen hoffte. Im schroffen Gegensatz steht das Abendlied zu ihrer freudlos-rationalen Berliner Variante, die Leidenschaft nur in der Verdammnis aller Leidenschaft entwickelte; also auch: in der Verdammnis von Verstößen gegen die ausgetüftelten Regelpoetiken. Deren Häuptling Friedrich Nicolai hatte, kein Jahr zuvor, ein Kompendium „vol schönerr echterr liblicherr Volckslieder“ herausgegeben. Die pseudo-archaische Schreibweise soll Schlicht- als Plumpheit verhohnepipeln.
„Sachen,/ Die wir getrost belachen“ – das konnte immer als rätselhafter Vers erscheinen: Sonderlich komisch hatte man den Mond nie gefunden. Wer die Zeilen aber als Antwort auf Nicolais faden Spott liest, entdeckt einen Hintersinn: Das Runde, das Wahre und Schöne des Gedichts wurzelt im Unsichtbaren.
Zuerst veröffentlicht hat der gewiefte Journalist und Redakteur Claudius das Abendlied eben nicht in seinen „Sämmtlichen Werken des Wandsbecker Bothen“, die er seit 1775 Band für Band vorlegt. Darin erscheint es erst 1782. Den Erstdruck durfte aber schon Johann Heinrich Voß im „Hamburgischen Musen-Almanach aufs Jahr 1779“ besorgen: weil er Claudius’ Freund war und Meister seiner Freimaurerloge. Vielleicht aber auch, weil Voß im Erscheinungsjahr mal wieder eine Fehde begonnen hatte. Sie drehte sich um Fragen der Poetik und wurde erbittert, schonungslos und über Jahre geführt. Ziel war die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ – und ihr Herausgeber, Friedrich Nicolai. BENNO SCHIRRMEISTER