Die vergessenen Erfinder der Leberschau

Vom Reichtum der Etrusker zeugen nur noch Grabbeigaben: Eine Hamburger Doppelausstellung nimmt eine mythenumwobene Kultur ins Visier

Die etruskische Sprache ist bis heute unzureichend entschlüsselt

von Hajo Schiff

Mit vor den Körper gelegten Händen springt ein Schwimmer in die Fluten: Die kleine Bronzefigur, elegant und zeitlos gültig geformt, ist in einer Vitrine des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe zu sehen. Sie ist etwa 2.440 Jahre alt, symbolisiert den Übergang vom Diesseits ins Jenseits – und war doch ganz profan die Henkelfigur auf einem Gefäß, scheinbar bereit, in den süßen Wein zu springen. Nun ist sie ein Highlight der Doppelausstellung zu den Etruskern, die zurzeit in Hamburg zu sehen ist. Illustriert das staatliche Museum mit 300, teils eigenen, teils sogar aus Japan herbeigeschafften Objekten die Geschichte dieses Volkes, das etwa seit dem neunten Jahrhundert in Mittelitalien in Erscheinung tritt und zu Beginn unserer Zeitrechnung völlig verschwunden ist, so gönnt sich das private Bucerius Kunst Forum den teuren Luxus, am Hamburger Rathausmarkt sieben komplette, herrlich ausgemalte Grabanlagen auszustellen – erstmals außerhalb Italiens.

Was aber ist an solch einer Ausstellung heute aktuell? Die Etrusker waren ein sehr reiches Volk. Sie hatten einige Erfindungen gemacht – Rundbogenmauerwerk und Kanalisation, die Granulation beim Goldschmuck, die Brenntechnik von Großkeramik sowie spezielle Verhüttungstechniken. Auch die Grundzüge der lateinischen religiösen Praxis (Leberschau, Vogelzug-Orakel) stammen von ihnen und nicht von ihren kulturell mediokren Schülern, den Römern. Die Etrusker hatten große Rohstoffreserven, vor allem Eisenerz, das ein geschätzter Exportartikel war. Und von ihrem erwirtschafteten Reichtum konnten sie manchen Luxus kaufen – so wie die Zeit-Stiftung für das von ihr betriebene Bucerius Kunst Forum.

Aufgrund des Mangels an schriftlicher Überlieferung und der in ihrer griechischen Schrift zwar lesbaren, aber bis heute weitgehend nicht entschlüsselten Sprache weiß die Wissenschaft kaum mehr über dieses Volk als schon vor Jahrzehnten. Man hat schlicht keine Ahnung, ob die mitunter orientalisch, geradezu ägyptisch anmutenden Jenseitsvorstellungen und der komplizierte Totenkult allgemein waren oder nur in jener dünnen Oberschicht verbreitet, deren Gräber sich zufällig erhalten haben. Genauso wenig ist bekannt, ob die Etrusker die damals allerneuesten Erfindungen der Athener Malerei des letzten Drittels des vierten Jahrhunderts v. Chr. – Schatten und Spitzlichter und somit die Körper-Perspektive, wie in der aufwendig restaurierten „Tomba Francois“, der Grabkammer des Adeligen Vel Saties zu sehen – sich erstaunlich zeitnah angeeignet hatten oder nur durch hoch bezahlte griechische Gastarbeiter für sich ausführen ließen. Jedenfalls scheint die Vorstellung einer luxurierenden, ein wenig manieristisch-exotischen und in den letzten Generationen geradezu todessehnsüchtig den eigenen Untergang kultivierenden Handelselite uns heute näher und wichtiger zu sein als die bislang ungeklärte Frage nach Herkunft und Spezifik eines für die europäische Geschichte weit bedeutenderen Kulturvolkes, als es die völlige Assimilation durch das römischen Imperium auf den ersten Blick vermuten lässt. Angesichts der aus vielen Quellen geschöpften, doch verfeinerten Kultur dieses rätselhaften kleinen Volkes, das vor der Strategie und Kriegstechnik der Römer kapitulieren musste, kann man sich in poetischer Anwandlung ein wenig wie auf Thomas Manns Zauberberg vorkommen. Ausgerechnet Kaiser Claudius (vergiftet 54 n. Chr.) war nachweislich der Letzte, der Etruskisch sprach; sein mehrbändiges Werk zur Kultur der Etrusker ist leider bis auf wenige Zitate verschollen. Dafür ist die Malerei in den etruskischen Gräbern der Toscana nahezu die einzige vorchristliche europäische Großmalerei, die überhaupt aus der Antike erhalten blieb.

So faszinierend der erneute Einblick in eine gar nicht so ferne fremde Kultur mitten in Kerneuropa auch sein mag, die Ausstellung der Grabmalereien ermöglicht noch einen anderen, direkteren Zugang. Denn die sieben gezeigten Grabanlagen demonstrieren alle Möglichkeiten des heutigen Umgangs mit durch Umwelteinflüsse und Massentourismus gefährdeten Kunstwerken: Demontage des Originals und Überführung ins Museum, Rekonstruktion der Architektur mit geborgenen Originalfragmenten, künstlerische Reproduktion nach genauen zeichnerischen Erfassungen, Faksimilekopie nach dem Original und fotografische Simulation. Jedenfalls gibt es über diese Ausstellung hinaus zur Erhaltung etruskischer Kunst einen großen Handlungsbedarf, damit die Ewigkeit eines fast vergessenen Volkes nicht in der Jetztzeit endet und mehr von den Etruskern übrig bleibt als die althergebrachte, gleichwohl diffuse Verachtung der Menschen in der Toscana für die Hauptstadt Roma, dem einst etruskischen „Rumach“.

Doppelausstellung „Die Etrusker: Luxus für das Jenseits“, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Steintorplatz, Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr; „Bilder vom Diesseits – Bilder vom Tod“, Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt, tägl. 11–19 Uhr; beide bis 16. Mai; Katalog 224 Seiten, 24, 80 Euro; Umfangreiches Rahmenprogramm.