Die unsichtbare Gefahr: Kopf, Stein, Pflaster
In Preetz ist die Stimmung zwischen Jugendlichen und Polizei schlecht, die Kleinstadt galt als „gefährlicher Ort“. Wie konnte es dazu kommen?
Demmins Wangen glühen, der Stecker mit dem Stadtwappen hängt schief am Revers. Alles werde aufgebauscht, schimpft er. „Wir sind eine normale Kleinstadt mit den Problemen einer normalen Kleinstadt!“ In Hamburg oder Berlin würden alle mit den Achseln zucken, aber hier, in Preetz, sei alles ein Riesending.
Demmin meint die Schlagzeilen. „Randale“ stand da über Preetz: „Jugendliche greifen Polizeistation an“, „Wie die Stadt zum gefährlichen Ort wurde“ – und: „Das war der pure Hass“. In der Nacht im April, als die Wache angegriffen wurde, fiel ein Schuss.
Was zur Hölle ist los in Preetz?
Vom Bahnhof geht man zu Fuß drei Minuten ins Zentrum. Nirgends liegt Hundescheiße, auf den Gehwegen wächst Moos. In der Straßenrinne plätschert ein Bach. Eine Frau rattert mit dem Rad übers Pflaster, hält am Bordstein, steigt ab und huscht ohne Seitenblick über die Straße. Ihr Rad sperrt sie nicht ab.
Am Marktplatz sitzen Rentner in der Sonne, im Brunnen spielt barfuß ein Mädchen. Als sie einen Hund entdeckt, tapst sie aus dem Brunnen. „Zieh dir Schuhe an!“, ruft ihre Mutter von einer Parkbank, „hier ist es dreckig, überall Kippen und Scherben!“ Grimmig schaut sie rüber zum Sky-Supermarkt: Dort stehen sieben Jugendliche und klirren mit Bierflaschen.
350 Meter entfernt schüttelt Bürgermeister Demmin in seinem Büro lange den Kopf. „Wir haben das Phänomen, dass fünf bis zehn faule Äpfel im Korb große Stimmung verursachen.“
Rüdiger Wiese, Streetwoker in Preetz
Züge im 30-Minutentakt
Er ist seit 2015 Bürgermeister von Preetz. 16.000 Einwohner, Züge im 30-Minutentakt nach Kiel, Kopfsteinpflaster, Fußgängerzone. „Gemischte Sozialstruktur“, sagt Demmin, „von wohlhabend bis arm, alles dabei.“ Eigentlich sei hier nichts los.
Preetz hat also gar kein Problem? „Wir haben eine Vorgeschichte. Die Reizschwelle liegt tief: Fällt der Name Preetz, stürzen sich die Medien drauf.“ Klar, wenn Steine auf Polizisten flögen, sei das „schlimm“. Aber: „Schlagzeilen hat es nur gegeben, weil über Preetz immer wieder berichtet wurde.“
Fast ein Jahr lang galt der Marktplatz seiner Stadt als „gefährlicher Ort“. Ein Begriff aus der Polizeisprache, der dem Bürgermeister von Anfang an missfiel. Er sprach lieber von einem „Bereich, der unter besonderer Beobachtung steht“.
„Gefährlicher Ort“, das heißt: Die Polizei darf hier ohne den konkreten Verdacht einer Straftat kontrollieren. Für manche Anwohner hieß „gefährlicher Ort“: Wir sind hier nicht mehr sicher. In ganz Schleswig-Holstein gibt es laut Innenministerium zehn dieser Orte.
Im Herbst 2017 gab es zwei Vorfälle in Preetz: zunächst brach ein Jugendlicher einem Polizist die Gesichtsknochen, kurz darauf wurde ein 19-jähriges Mädchen mit einem Schlagring verletzt – die Polizei antwortete mit massiven Kontrollen und forderte 25 Männer und Frauen zur Verstärkung an. Eine Woche lang standen jeden Tag Streifenwagen am Marktplatz, pro Nacht waren bis zu 30 Beamte im Einsatz. Es gab Platzverweise und Anzeigen: Beleidigung, Ruhestörung, Widerstand, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Sachbeschädigung und Körperverletzung.
Demmin saß in einem dänischen Ferienhaus, als ihn die Nachricht der Eskalation erreichte. Die Heimatzeitung bat um eine Stellungsnahme. Im Internet las er die Schlagzeilen. „Ich dachte, jetzt ziehen marodierende Jugendliche durch die Stadt, zünden Mülltonnen an und reißen die Polizeistation ein.“ Was wirklich passiert war? Der Bürgermeister sagt: „Da fragen Sie am besten die Polizei.“
Die erscheint zum vereinbarten Gesprächstermin auf der Wache mit vier Mann: Der Vize-Chef aus Kiel, der Chef aus Plön, der Vize-Chef aus Preetz und ein Pressesprecher. Sie tragen Uniform und sagen: „Preetz hat kein Problem.“
Die Polizei sieht kein Problem, wenn Steine auf Polizisten fliegen? Ralph Herzfeld, Preetzer Vize-Chef, sagt: „Ja, doch. Stimmt.“ Sein Vorgesetzter aus Plön, Michael Martins, schaltet sich ein: „Der harte Kern aus fünf bis sechs Jugendlichen trifft sich regelmäßig am Markt und begeht Straftaten, dazu kommen vielleicht 25 Mitläufer.“
Die subjektive Sicherheit
Der Chef aus Kiel schaltet sich ein, Frank Matthiesen: „Das subjektive Sicherheitsgefühl war beeinträchtigt. Die Leute hatten Angst im öffentlichen Raum.“ Der Pressesprecher sagt: „Ich bin ein sehr kritischer Geist und finde nicht alles gut, was die Polizei macht.“
Im vergangenen April hob die Polizei die Einstufung als „gefährlichen Ort“ wieder auf. War das massive Instrument notwendig? „Aus unserer Sicht absolut. Die Polizei musste Stärke zeigen“, sagt Martins. „Klar, dass der Begriff manche Bürger verunsichert hat.“
Was war los in der Nacht der fliegenden Steine? Sechs Jugendliche hatten von Montag auf Dienstag am Marktplatz Pappaufsteller umgetreten und randaliert. Die Polizei verteilte Platzverweise, die Jugendlichen blieben. Also brachten die Beamten einen Randalierer in den Gewahrsam nach Kiel, den anderen nahmen sie mit auf die Preetzer Wache, dort sollten seine Eltern ihn abholen.
Um 23 Uhr brüllte jemand vor der Wache: „Kommt raus, ihr Scheißbullen!“ und trat gegen die Tür. Die Beamten riefen Verstärkung. Als zwei Polizisten vor die Tür traten, flogen Steine, ein abgebrochener Ziegelstein schlug knapp über dem Kopf einer Polizistin ein. Die Täter flüchteten.
Einen 17-Jährigen nahm die Polizei kurz darauf fest. Mehrere Wagen verfolgten den anderen Jugendlichen. In der Nähe des Bahnhofs rannte er einem Streifenwagen vor die Scheinwerfer. Dann fiel ein Schuss.
Polizeichef Matthiesen aus Kiel erklärt: Ein Kollege sei aus dem Wagen gestiegen und habe beim Aussteigen das Kabel des Funkgeräts im Türrahmen ausgerissen. Er habe einen „Signalschuss“ abgegeben – um den Kollegen seine Position mitzuteilen. Er habe „definitiv“ auf niemanden geschossen. „Und ein Signalschuss ist rechtlich ungefähr so wie“ – Matthiesen klatscht in die Hände – „wie in die Hände klatschen: Hier bin ich.“
„Das wurde alles hochgeschaukelt“, sagt Rüdiger Wiese, „von den Medien und der Polizei.“ Wiese arbeitet seit 15 Jahren als Streetworker im Ort.
Wiese, wirres weißes Haar und sanfte Augen, lehnt lächelnd in der Werkstatt des Preetzer Jugendhauses und hebelt mit einem Holzlineal zischend den Kronkorken einer Cola-Flasche auf.
Als in Preetz die Steine flogen, saß er in Schweden im Ferienhaus.
Er sagt, die Polizei stelle die Jugendlichen in Preetz an den Pranger. „Wenn die Rennleitung mal einen der Jungs filzt und ein halbes Gramm findet, feiern die sich weg. Das ist ein Witz.“ Wenn Wiese die Polizei meint, sagt er konsequent „Rennleitung“.
Polizei ist gleich Feind: So würden die Jungs hier denken, sagt Wiese. „Die haben den Respekt nicht mehr. Da ist die Polizei aber nicht ganz unschuldig dran, die haben 17-Jährige behandelt wie Schwerverbrecher.“
Irgendwann hätten die Jugendlichen sich ein Spiel draus gemacht. „Jedes Mal, wenn die Rennleitung vorgefahren ist, haben sich die Jungs zusammengerottet und böse geschaut, klar, auch mal provoziert, aber doch nichts Schlimmes.“
Viele seiner „Kunden“, so nennt Wiese die Jugendlichen, kommen aus kaputten Familien. Einheimische und Menschen ausländischer Herkunft, die oft die Schule schwänzen und irgendwann ohne Abschluss auf dem Markt abhängen. „Mal klaut einer ne Flasche Korn, mal gibt’s ne kleine Körperverletzung, mehr nicht.“
Früher sei Preetz eine Drogenhochburg gewesen. „Heute ist das Kindergarten.“ Die Stadt hat trotzdem eine zweite Streetworker-Stelle geschaffen.
Wiese will jetzt mal bei seinen „Kunden“ vorbeischauen, runter zum Markt. Um den Brunnen stehen zehn junge Männer, rauchen, reden, trinken Bier. Als sie Wieses Auto bemerken, lachen sie und rufen: „Rudi, wo ist unser Bier?“
Er steigt aus und gibt allen die Hand, die Jüngeren umarmt er. Nach ein paar Minuten werden die Jungs gesprächig. Die Polizei behandele sie wie Schwerverbrecher, sagen sie, stelle sie an die Wand wie Drogendealer, kontrolliere sie mehrmals am Tag.
Es gebe mehrere Gangs hier: „die Deutschen“, „die Kanaks“ und „die Flüchtlinge“. Untereinander gäbe es keinen Stress. Nur die Polizei mache immer Stress. „Wir wollen in Ruhe hier sitzen, wir tun niemandem weh. Wo sollen wir sonst unser Bier trinken?“, sagt einer der Jungs.
Letzten Winter gab es ein Krisengespräch im Rathaus. Bürgermeister Demmin hatte 20 Jungs und Mädchen eingeladen. Er bot ihnen einen Treffpunkt zum Abhängen an: das „Haus am Sandberg“. Streetworker Rüdiger Wiese sollte alles beaufsichtigen. Die Jugendlichen arbeiteten selbst die Hausordnung aus, die härter war, als Wiese es gedacht hätte.
Seit Februar gilt das Angebot – bis heute wartet Rüdiger Wiese auf seinen ersten Kunden.
Die Lage ist undurchsichtig
Die Jungs am Markt sagen: „Was sollen wir da? Trinken unter staatlicher Aufsicht? Nee, danke.“ Die Lage in Preetz ist undurchsichtig: Die Attacke auf den Polizisten im Herbst? Verübt von einem Jugendlichen aus Kiel. Das verletzte Mädchen auf dem Jahrmarkt? Ein 16-Jähriger aus Plön. Mehrere Straftaten gehen aber auf das Konto der Jugendlichen aus Preetz.
Die beiden Tatverdächtigen des Angriffs auf die Wache sollen schnell bestraft werden, da sind sich Wiese, die Polizei und der Bürgermeister einig. Bürgermeister Demmin sagt: „Da ist ein Denkzettel fällig!“
Donnerstagabend, 16 Uhr. Am Marktplatz ist es ruhig, Rüdiger Wieses Kunden trinken anderswo. Dafür kreischen und tanzen am Bahnhof 15 Frauen mit schwarzen T-Shirts um eine Blondine im pinken Top, Plastikbecher in der Hand, leere Sektpullen, Krönchen im Haar. Aus billigen Musikboxen scheppert Schlager. Ein Junggesellinnenabschied auf dem Weg in die nächste Stadt. Weit weg von Preetz.
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