Die taz-Leichtathletik-Serie (4): Jugend ohne Biss
In Deutschland wird es immer schwerer, sportbegeisterte Kinder für den Leistungssport zu interessieren. Trainer klagen, dass sich in der "Null-Bock-Generation keiner mehr quälen will".
An einem heißen Montagmorgen sitzt Hannelore Haag am Rande des Mommsenstadions in Berlin-Charlottenburg und schaut auf die Trainingsplätze der Sportanlage. Wasser spritzt aus Rasensprengern über die Spielfelder, glitzert bunt in der Sonne. Von nebenan schallt Kinderlachen herüber. Hannelore Haag ist seit 30 Jahren Übungsleiterin im Kinder- und Jugendbereich der Leichtathletikabteilung des traditionsreichen SCC Berlin.
Zweimal in der Woche betreut die 67-Jährige Nachwuchsathleten im Alter zwischen sechs und neun Jahren - ehrenamtlich, versteht sich. Dass sich die Zeiten für die deutsche Leichtathletik verändert haben, kann die ehemalige Verwaltungsbeamtin in fast jeder Trainingseinheit beobachten. Seit einem Jahr etwa verbucht ihr Verein einen überdurchschnittlich großen Zuwachs bei den unter Zehnjährigen.
In der Altersgruppe 15 bis 18 Jahre allerdings, der Phase also, in der sich Talente herausbilden und gezielt fördern lassen, ist die Entwicklung dagegen rückläufig. Haag formt ein Dreieck mit den Händen und erklärt: "Im Leichtathletik-Nachwuchs gibt es heute eine Pyramide: Der Einstieg bei den Sechs- bis Zehnjährigen ist sehr breit, dann aber nimmt es kontinuierlich ab und bis zum Spitzensport bleiben nur noch ganz wenige übrig."
Aus Protest gegen Sicherheitsüberprüfungen von Journalisten berichtet die taz nicht von den Wettkämpfen der Leichtathletik-WM in Berlin. Doch wollen wir unseren Lesern Informationen über Hintergründe, Fragwürdigkeiten und Interessen, die zu dieser Sportart gehören, nicht vorenthalten.
Diesen Eindruck bestätigen offizielle Angaben des Deutschen Leichtathletik-Verbands DLV: Während die Zahl der Mitglieder bis 14 Jahre seit 1981 leicht ansteigt, gibt es bei den Athleten im Alter zwischen 15 und 18 Jahren einen stetigen Mitgliederschwund. Waren es vor fast 30 Jahren noch 140.000 Nachwuchssportler, ist diese Zahl bis 2008 auf etwa 80.000 gesunken.
Für Haag, die in ihrer Jugend selbst Mehrkämpferin war, ist die mangelnde Leistungsbereitschaft des Nachwuchses ein Grund für diese Entwicklung: "Wer in der Leichtathletik nach ganz oben will, muss einiges entbehren und Abstriche machen." Die Bereitschaft, bis an die Grenzen zu gehen, hat in den vergangenen drei Jahrzehnten immer mehr abgenommen, bemerkt die passionierte Nachwuchstrainerin und fügt schulterzuckend hinzu: "Zwar hatten wir Riesentalente beim SCC, doch aus denen ist einfach nichts geworden, weil sie nicht den nötigen Biss hatten. In dieser Null-Bock-Generation will sich für den Erfolg niemand mehr quälen."
Eine weitere Ursache für das mangelnde Interesse der Jugendlichen an der Leichtathletik liegt für Haag in der fehlenden Medienpräsenz ihres Sports. Zwar ist die Aufmerksamkeit bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen unverändert groß, andere Meetings und Meisterschaften dagegen finden kaum Beachtung.
Auch Carsten Schülke, Sprecher der Deutschen Talentförderung DTF und selbst Jugendtrainer, bescheinigt der deutschen Leichtathletik in den vergangenen Jahren ein Imageproblem: "Die TV-Übertragungen der Wettbewerbe haben stark abgenommen. Wenn Leichtathletik aber nicht im Fernsehen gezeigt wird, schauen es sich die Kinder auch nicht an und bekommen vom Sport selbst zu wenig mit."
Ebenso wie Haag stellt er im Training eine gesunkene Leidensbereitschaft fest: "Wenn es anstrengend wird, haben die meisten keine Lust, sich zu quälen." Dass darüber hinaus die deutsche Leichtathletikszene auch zu wenig Identifikationspotenzial für junge Athleten hergibt, ist für die Nachwuchsarbeit gleichermaßen hinderlich.
Deutschland hat mit Ralf Bartels und Nadine Kleinert zwar hervorragende Kugelstoßer. Populär sind aber eher die Sprung- und Sprintdisziplinen, in denen Deutsche der Konkurrenz seit Jahren hinterherlaufen: "Nur Athleten, die sich auch in der Weltspitze befinden, bieten sich als Vorbilder für die Jugend an." So muss auch DLV-Präsident Clemens Prokop unumwunden zugeben: "Wir haben leider zu wenige Local Heros."
Um dies zu ändern und möglichst bald wieder an jene Weltspitze zurückzukehren, intensiviert die Deutsche Talentförderung seit einiger Zeit ihre Sichtungsarbeit. So können Kinder und Jugendliche im Wettbewerb "Deutschland sucht den Supersprinter" an verschiedenen Standorten im gesamten Bundesgebiet ihre Schnelligkeit unter Beweis stellen und sich für das Vorprogramm des Istaf-Meetings in Berlin qualifizieren. "Dort schnuppern sie dann die tolle Atmosphäre im Olympiastadion. Wir müssen die Jugend für diesen Sport begeistern, Talente entdecken und diese dann gezielt fördern", so Schülke.
Für Hannelore Haag war der Status quo der deutschen Leichtathletik bei der Eröffnungsfeier der WM vor dem Brandenburger Tor ins Bild gesetzt. Dort traten zwölf ihrer Schützlinge unter dem Motto "Vergangenheit und Zukunft" zusammen mit 100-Meter-Olympia-Sieger Armin Hary (Rom, 1960) und der Weltleichtathletin des Jahres 1992, Heike Henkel, auf. Alte Helden aus vergangenen Tagen neben neuen Hoffnungen, allein dazwischen klafft eine riesige Lücke.
Um die neuen Talente in der schwierigen Phase zwischen 15 und 18 Jahren nicht wieder zu verlieren, ist eine intensive Betreuung der jungen Sportler entscheidend. Hierfür braucht es allerdings eine verbesserte Trainerausbildung, weiß Haag: "Der Nachwuchs steht und fällt mit seinen Trainern. Für eine erfolgreiche Jugendarbeit sind auch qualifizierte Übungsleiter notwendig."
Dass der DLV diesbezüglich in den vergangenen Jahren seine Anstrengungen vervielfacht hat, stimmt sie positiv. Bei den ganz Kleinen merkt sie bereits die Veränderung. Seit kurzer Zeit steht sie in den eigenen Übungseinheiten bis zu 60 Kindern gegenüber: "Diese Entwicklung ist erfreulich. Teilweise haben wir auch sehr talentierte Jungen und Mädchen dabei. Jetzt liegt es an uns, die Kinder bei der Stange zu halten."
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