: Die tägliche Erzählung
VON MICHAEL RUTSCHKY
Im Süden heute vor allem Wolken. Zeitweise regnet es sogar. Im Verlauf des Tages wird das Wetter aber wieder freundlicher, Sonne und Quellwolken wechseln ab. Nur im Norden verdichtet sich die Bewölkung anhaltend, bei 18 Grad Tagestemperatur, die nachts auf 15 Grad absinkt. Um 9 Uhr 45 wird auf dem Waldfriedhof Wilhelmine Retzlaff beerdigt, Hausfrau, 85 Jahre alt. Um 11 Uhr 15 Otto Schneller, Kaufmann, 79. Um 12 Uhr wird auf dem Westfriedhof Helmut Windolf beerdigt, Postamtsrat, 74 Jahre. Um 14 Uhr Franz Laschitz, Elektriker, 60 Jahre. Um 13 Uhr 45 wurde auf dem Ostfriedhof Brigitte Wittkop, Hausfrau, 71 Jahre, feuerbestattet. Außerdem ist der Tod von Martin Neuffer, ehemals Rundfunkintendant, 79 Jahre, und von Karin Böhme-Dürr, Professorin für Medienwissenschaft, 55 Jahre, anzuzeigen.
Ja, so lesen wir es täglich in der Zeitung, so wollen wir es täglich in der Zeitung lesen. Deshalb kommt sie täglich ins Haus: liegt auf dem Fußabtreter vor der Wohnungstür (und wenn wir wieder mal Schlafstörung hatten, hörten wir gegen fünf Uhr den Boten sie dorthin knallen). Täglich erzeugt sie ein Wissen, von dem wir ganz sicher sind, dass wir ohne dasselbe nicht auskämen. (Es ist übrigens verboten, im Zuge der Schlafstörung die Zeitung um fünf Uhr vom Abtreter nach drinnen zu holen und schon mal anzuschmecken. Wenn lesen, dann das Buch, das gestern vor dem Einschlafen fortgesetzt und dann zugeklappt wurde. Die Zeitung gehört zum neuen Tag, der erst mit dem Kaffeetrinken beginnt.)
Die Börse ist freundlicher, was sich aus den Inflationsdaten der USA erklärt: Die Preise stiegen geringer als erwartet, weshalb keine Zinserhöhungen erwartet werden müssen. Der Euro, lesen wir, stieg auf 1,1246 Dollar, was uns unsinnigerweise mit leisem Stolz erfüllt. Wer ist überhaupt wir? Um von der Börsenerzählung der Zeitung zu profitieren, müssten wir da investiert haben, und das trifft doch nur für eine recht kleine Zahl zu. Die Todesanzeigen und die Friedhofsnachrichten, heißt es, studieren in der Zeitung nur die alten Leute: um ferner Bekannte unter den neuesten Toten zu entdecken (über Freunde und nähere Bekannte wird man ja anders informiert) und sich klammheimlich daran zu erfreuen, wen man wieder überlebt hat; der junge Mensch hält sich von Todesanzeigen fern. Einzig der Wettererzählung der Zeitung scheint schlichtweg anthropologische Reichweite zuzukommen, weil jeder wissen möchte, ob’s heute regnet oder die Sonne scheint.
So wäre die Wettererzählung die, welche uns tatsächlich alle umfängt. Wobei festzuhalten ist, dass doch im Prinzip ein Blick aus dem Fenster dieselbe Information erbringen würde – aber nein: Erst wenn’s in der Zeitung steht, wird das Wetter für diesen Tag verbindlich. Sogar dann, wenn, entgegen der Zeitungserzählung, hier in Berlin am Morgen die Sonne scheint und von den Wolken des neuen Tiefs keine Spur zu entdecken ist. Heute bleibt das Wetter dunkel und wechselhaft, punktum.
Gestern veranstaltete in Berlin das Kapital eine seiner Jahresversammlungen. Man begrüßte den Regierungschef und versicherte ihn der Unterstützung des Kapitals – obwohl er einer Partei angehört, die ihrer Tradition nach nicht gerade zu den Freunden desselben zählt. Die Partei des Regierungschefs hatte eben wieder Regionalwahlen verloren – da sieht man’s, murrt die kritische Jungmenschenfraktion unter den Zeitungslesern, die sommers den Wetterbericht im Hinblick auf das Freibad studiert und die Friedhofsnachrichten komplett ignoriert, da sieht man, wessen Interessen der Regierungschef eigentlich dient. Den Interessen des Kapitals statt den Interessen seiner Wähler. Kein Wunder, dass sie ihm davonlaufen.
Dass in Jerusalem der Regierungschef beschlossen hat, den Gaza-Streifen zu räumen, der kritische Jungmensch bleibt sich darüber im Unklaren, ob er das gutheißt oder für eine weitere Schandtat dieses Regierungschefs hält, eines alten, ungemein fetten Mannes, der für seine Brutalitäten bekannt ist (und ihretwegen zum Regierungschef gewählt wurde). Wir erinnern uns gut, wir langfristigen und nachhaltigen Zeitungsleser, wie das stets ein Problem war: Wenn wir einen Politiker als Schurken ausgeguckt hatten, sollte er das auf alle Zeit bleiben. Wenn er zuweilen was Gutes zustande brachte – der amerikanische Präsident Nixon, einer unserer Lieblingsschurken, beendete den Vietnamkrieg –, machte uns das verlegen und unglücklich. Während wir uns heute vorstellen können, Ariel Scharon bringe womöglich diese oder jene Angelegenheit in Ordnung – wir können es immerhin wünschen. (Inzwischen können wir uns vorstellen – um es umständlich zu sagen –, dass die Zustimmung des Kapitals zu unserer Regierung keineswegs eindeutig anzeigt, deren Politik sei grundfalsch.) Dies ergibt sich, wie gesagt, aus langfristiger und nachhaltiger Zeitungslektüre, Schurken werden, wenigstens teilweise, zu Helden und umgekehrt. So erzählt heute die Zeitung auch von dem Präsidenten der Palästinenser, was er vom Rückzug aus Gaza hält (halten sollte). Mit ihm verbindet uns eine solche Geschichte voller Wendungen. Als er noch Guerillaführer war, der Flugzeuge entführen ließ und Attentate auf Zivilisten organisierte, hassten wir ihn, so sagt man, wie die Pest; als er mit einem israelischen Regierungschef namens Rabin so etwas wie Frieden schloss (einen Händedruck tauschte), freuten wir uns über den Fortschritt, der nirgends Halt mache und jedes versteinerte Verhältnis zum Tanzen bringe; als er mit einem israelischen Regierungschef namens Barak ein detailliertes Abkommen ausgehandelt hatte und es im letzten Augenblick kündigte – da hassten wir ihn wieder. Und jetzt lautet die Parole einfach: „Arafat muss weg.“
Überhaupt dauert es eine Weile, bis die Zeitungserzählung dieses Personal mit Helden und Schurken aufgebaut hat, denen wir dann regelmäßig begegnen (in der Zeitung). Anfangs – wenn ich mich richtig erinnere – weigert sich der (kritische) Jungmensch überhaupt, zu diesem Personal innere Beziehungen aufzunehmen, seine Helden und seine Schurken zu identifizieren. Sie sind doch keine (kritischen) Jungmenschen! Sie verfolgen undurchsichtige Interessen (oder unterliegen ihnen); vor allem wollen sie Macht – während der Jungmensch geblendet ist von seinen makellos guten Absichten, deren Existenz er eben entdeckt. Politiker, die sind doch alle wie dieser Berlusconi, von dem unsere Zeitung heute ausführlich erzählt, wie er eine (sehr hübsche und kritische) Moderatorin aus den italienischen Tagesthemen vertrieb, um die Sendung restlos auf seine eigenen manipulatorischen Absichten zuzuschneiden! In der Regel sind es dann ein, zwei Politiker, die den jugendlichen Zeitungsleser mit diesem Personal zu verbinden vermögen (und dies Personal zu einem Teil seiner seelischen Inneneinrichtung machen). In unserem Fall waren es ein amerikanischer Präsident namens Kennedy und ein deutscher Parteivorsitzender namens Brandt (ein britischer Regierungschef namens Wilson ist in Vergessenheit geraten). Dann verbleiben die Politiker insgesamt nicht wie hinter Glas, auf Äquidistanz gebannt, und hören für den (kritischen) Jungmenschen auf, samt und sonders derselben Verbrecherbande anzugehören! An deren Schurkenstreichen sich zu erfreuen die Zeitung Tag für Tag lehrt. Ich bin in der Tat der Meinung, es gehöre unabdingbar zur politischen Sozialisation – wie wir früher sagten –, dass man diesem oder jenem Politiker auch mal zustimmt, zeitweise, probehalber. An einer Zeitungslektüre, die sich zwischen dem 25. und dem 85. Lebensjahr immer wieder nur in: höhöhö! was für Gauner! entlädt, ist was faul.
Aber reden wir hier überhaupt von Zeitungen, die von Vorgängen draußen in der Welt berichten und dem Leser Meinungen zu bilden und Urteile zu fällen erlauben? Schröder und Arafat und Berlusconi und ihresgleichen, wenn sie dergestalt auf unserer inneren Bühne auftreten, dann haben sie sich doch längst in Romanfiguren verwandelt. Oder sogar Kinogestalten. Wer je Oliver Stones Film Nixon von 1995 mit Anthony Hopkins in der Titelrolle sah, wer will ein, sagen wir: realistisches Verhältnis zu dem amerikanischen Präsidenten Nixon aufrechterhalten? Sogar dann, wenn wir ihn ohne Zögern als Schurken klassifizieren?
Das ist ein ehrwürdiges Problem. Wenn wir morgens die Zeitung hereinholen und beim Kaffeetrinken uns in sie vertiefen, welches Verhältnis zur Welt gehen wir da ein? Ein imaginäres. Personen und Ereignisse, die wir niemals face to face im selben Raum und in derselben Zeit erleben, erfüllen uns sogleich mit den heftigsten Affekten, ganz wie man es vom Roman und vom Kino kennt. Dafür erspart uns das Zeitunglesen die Risiken, ja die Lebensgefahr, die schon das bloße Zuschauen im Gaza-Streifen oder im Irak oder in Afghanistan mit sich brächte. Und dabei trägt die Zeitungserzählung immer das Wirklichkeitszeichen: Dort, wo wir nicht sind, findet der Schrecken unzweifelhaft statt, den ein Roman oder Film bloß erfindet. Und: Ein Roman oder Film ist irgendwann zu Ende; während der Schrecken, den die Zeitung tagtäglich erzählt, niemals aufhört („und deshalb lesen wir sie ja weiterhin“).
Die Schrecken, die anderswo andere betreffen, beschränken sich nicht auf kriegerische Auseinandersetzungen im präzisen Sinn. Im Grunde lauert der Schrecken überall. Im Wetter beispielsweise, das sich heute freilich landesweit unauffällig verhält. In einem Wohn- und Geschäftshaus zu Duisburg, wo Unbekannte die Wohnung eines 60-Jährigen in die Luft sprengten, der sich mit seiner Freundin aber rechtzeitig nach Brasilien abgesetzt hatte; „Rotlichtmilieu“, sagt die Polizei – und der Kriminalbericht stellt gewiss eine der ältesten Schichten der Zeitungserzählung dar, in die wir, ebenso wie unsere Väter und Vorväter, immer wieder gern eintauchen. – Der heutigen Erzählung zufolge lauert der Schrecken ebenfalls im Milchpulver, mit dem man Säuglinge ernährt (statt mit Muttermilch). Trotz aller Reinigungs- und Isolierungsmaßnahmen misslingt es immer wieder, bei der Produktion des Milchpulvers das Bakterium Enterobacter sakazakii fernzuhalten, das bei Frühgeborenen Hirnhautentzündungen und schwere Darminfektionen auslösen kann, besonders leicht in den ersten sechzig Tagen nach der Geburt. Weltweit sind fünfzig Fälle bekannt, und Ärzte kritisieren, dass kein Hinweis auf der Milchpulverpackung den Verbraucher über diese Gefahren informiert. Und wir älteren, durchtrainierten Zeitungsleser machen gern Witze darüber, wie unsere Zeitung sich bemüht, allüberall Schrecken und Gefahren aufzuspüren, „was Berlusconi für das politische System Italiens, das ist Enterobacter sakazakii für das Verdauungssystem von Frühgeborenen“.
Oft gewinnt der langjährige, durchtrainierte Zeitungsleser den Eindruck, dass es die systematische Zeitungserzählung selbst ist, die einen Schrecken und eine Gefahr erst erzeugt. Indem sie die Aufmerksamkeit darauf lenkt; indem sie, die Aufmerksamkeit darauf lenkend, den Schrecken und die Gefahr in die Nähe des Lesers transportiert (wo sie keinesfalls sind). Enterobacter sakazakii ist dafür ein Name, den man sich merken kann.
Heute erzählt unsere Zeitung auch von Pitcairn. Das ist eine Insel im Pazifik, 3.000 Kilometer von Neuseeland entfernt, eine Schiffsreise von acht Tagen – und das Schiff kann nicht anlegen, denn Pitcairn besitzt keinen Hafen. 1789 siedelten sich Fletcher Christian und die Seinen hier an, die Meuterer der „Bounty“, eine aus Roman und Kino wohl bekannte Geschichte. 1937 zählte die Insel 233 Einwohner, heute sind es nur noch 45. Heute (erzählt unsere Zeitung) beginnt in Auckland (Neuseeland) der Prozess gegen sieben Männer von Pitcairn: Sie sollen auf der Insel Kinder sexuell missbraucht haben.
Auf Pitcairn existiert keine eigene Gerichtsbarkeit; alles Strittige klärt eine Art Gemeinderat. Die Einheimischen empört der Prozess in Auckland. Er folgt den Gesetzen Großbritanniens – aber die Insel verstand sich nie als Teil von dessen Kolonien. Im Gegenteil, sie bot doch den Rebellen gegen Kapitän Bligh und das britische Marinesystem Schutz. Und was die so genannten Kinder angeht, so gehört es zur Tradition Tahitis, von wo Fletcher Christian und die Seinen ihre Frauen mitbrachten – diese Frauen boten ja einen wesentlichen Grund für die Meuterei, wie man beim Betrachten von Tarita und Marlon Brando (die später heirateten) leicht lernt –, in Tahiti machte es kein Problem, wenn Männer mit zwölfjährigen Mädchen kopulierten, denn sie waren dort schon Frauen und deshalb zum Geschlechtsverkehr geeignet.
Alle Jahre wieder erzählt die Zeitung eine Geschichte von Pitcairn. In dieser Geschichte sind die Tatsachen mit Roman und Kino so dicht verwoben, dass niemand sie trennen kann, trennen möchte. Im Anschluss redet man, statt über die barbarischen Verhältnisse der Alten Welt, wo Mädchen mit der Geschlechtsreife gleich Frauen sind, im Anschluss redet man darüber, wie miserabel Mel Gibson den Fletcher Christian gab (während Anthony Hopkins es doch mit dem Bligh von Trevor Howard und dem von Charles Laughton aufnehmen kann, ja, Laughton war im Grunde viel zu fett, Schmiere, wie man im Deutschen sagt, pure ham sagt man im Englischen, weshalb Hopkins und Howard pikanterweise das Original von 1933 übertreffen), Mel Gibson, den man nie so richtig gern anschaut im Kino mit seinen Muckis und seiner Hysterie.
Zwar steht die Pitcairn-Geschichte meist unter Vermischtes oder Aus aller Welt oder wie dies Kapitel in unserer Zeitung überschrieben sein mag, doch nähern wir uns damit in Windeseile, wie man sagt, dem Kapitel, das in unserer Zeitung so etwas wie die Heimat darstellt. Feuilleton ist es überschrieben oder Kultur, und damit müsste unzweifelhaft klar sein, wer wir in Wahrheit sind, eine klar umrissene Fraktion der Zeitungsleser, Jungmenschen ebenso wie die älteren cognoscenti (und wie alle Fraktionen bilden wir uns halt ein, das Publikum, die Menschheit, das Ganze vorzustellen). Das Feuilleton strahlt aus: Als seine Anhänger dürfen wir Berlusconi apperzipieren, als wäre er ein mittelmäßiger Filmkomiker. Das Feuilleton ist es, das den Zeitungsleser die tägliche Verwechslung der Tatsachen mit den Topoi des Romans am gründlichsten lehrt. Heute – an dem Tag, den wir zur Beobachtung unserer Zeitung ausgeguckt haben –, heute befasst sich das Feuilleton ausführlich mit einem einzigen, weltberühmten Roman. Die Sache ist kompliziert (nein, einfach): Heute jährt sich zum hundertsten Mal der Tag, von dem der Roman behauptet, ihn zu erzählen, anlässlich der Erlebnisse und Gedanken und Fantasien eines jüdischen Werbefuzzis in Dublin, Irland.
Wir mochten ihn nie so richtig, jenen Roman. Als Jungmenschen lasen wir ihn einzig aus Pflichtgefühl (wie es dem Jungmenschen ziemt), und so reizt es uns wenig, was sich die Herren Breidecker und Seibt und Müller und Steinfeld (sowie Frau Maidt-Zinke) dazu einfallen ließen, was Originelles vermutlich, das schlagartig die hundert Jahre zwischen damals und heute, zwischen Ir- und Deutschland überspannt – und man weiß gleich, nicht wahr, dass das misslingen muss. Überraschende Korrespondenzen zwischen einst und jetzt ergeben sich nie auf Kommando; lehrreich könnte die heutige Feuilletonseite zum „Ulysses“ einzig unter dem Aspekt sein, wie originell und intelligent sich die Herren Müller etc. dieser Unmöglichkeit stellen (interessiert uns nicht wirklich).
Doch lernen wir was: Das Feuilleton betreibt einen Ahnen- oder Totenkult. Dass heute vor genau hundert Jahren ein Roman spielt, das ist im Grunde kein Ereignis, das ausgiebig betrachtet und kommentiert zu werden verdient. Es sei denn, wir warten regelmäßig auf solche Daten, mit denen ein großer Name, der Name eines großen Ahnen, Toten in die Gegenwart eintritt. Es geschieht nämlich nichts in der Gegenwart, das der Zeitungserzählung würdig wäre – ein Präsident des Kapitals lobt den Regierungschef, Berlusconi vertreibt eine TV-Moderatorin, das ist doch Pipifax –, nur wenn wir uns zu den großen Namen, den Helden aus der Vergangenheit in Beziehung setzen, erhält die Gegenwart Glanz und wird erzählenswert.
Ein junger Mann namens Fellner spielte den ersten Band von Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ ein. Dasselbe stellten drei Gitarristen mit dem Zyklus „Iberia“ von Isaac Albéniz (1908) an. Auf DVD kann man jetzt den Konzerten eines Belgiers namens Jacques Brel beiwohnen, der hässlich anzuschauen ist (zu viele und zu große Zähne, hahaha), aber seine Chansons wie ein Gott singt (tot seit 1978). In Hannover wurde ein weltberühmtes Theaterstück von William Shakespeare wieder einmal aufgeführt. In München zeigt eine große Ausstellung Fotografien eines Ehepaars, das sich auf Industrieanlagen spezialisiert hat und damit Weltruhm erlangte; ein australischer Dichter schrieb ein Gedicht von Buchlänge auf einen Vagabunden (Synonym für Dichter), der alle Schrecken des 20. Jahrhunderts erlebt hat, wie beispielsweise im Ersten Weltkrieg armenische Frauen angezündet wurden und im Verbrennen auch noch tanzen sollten: So etwas kann man heute aus dem Gaza-Streifen nicht erzählt bekommen. Damit verglichen ist, was heute in Gaza geschieht, beinahe harmlos. Der Toten- oder Ahnen- oder Vergangenheitskult ruft stets Monumentalereignisse auf, denen gegenüber die gegenwärtigen Ereignisse verblassen – was ist Ariel Scharon gegen Macbeth? Eigentlich gibt’s heute nur Trivialitäten zu erzählen; Personen und Ereignisse von Größe und Gewicht kommen einzig in der Vergangenheit vor – wobei das Feuilleton an Gegenwartsfiguren wie dem Fotografen-Ehepaar (Becher) und dem australischen Dichter (Murray) schon mal ausprobiert, ob sich die Namen später für den Ahnen- und Totenkult eignen. (Bei den Bechers scheint es gewiss.)
Es versteht sich, dass wir zwar meinen, das Insgesamt der Zeitungsleser zu repräsentieren, dass davon aber gar keine Rede sein kann. Zuweilen fällt unser Blick zufällig auf Textsorten, die uns ganz unbekannt sind, von denen wir sogar bezweifeln möchten, dass sie in unserer Zeitung überhaupt vorkommen, in der türkischen Stadt Antalya siegte bei den europäischen Schachmeisterschaften der Ukrainer Wassili Iwantschuk, aber der 22-jährige Levon Aronian (Armenier?), der für Deutschland spielte, kam auf den 3. Rang. MPU – was immer das sei – erlangt man sofort und positiv unter (01 72) 5 45 19 98.
Noch drastischer sticht ins Auge, dass wir ganze Kapitel der Zeitung systematisch vernachlässigen. Der Wirtschaftsminister möchte Beatrice Weder di Mauro in ein Expertengremien berufen. Gustav Horn verlor seinen Posten als Abteilungsleiter in einem angesehen Forschungsinstitut. Immer noch kaufen die Leute nur zögernd neue Autos. Was mich betrifft, so sagt es mir (in einem ganz anderen Kapitel) auch gar nichts, dass ein Schwede namens Henrik Larsson sich besonders hervorgetan habe, während Alessandro Del Piero sich beharrlich an der Peripherie verdribbelte und vom Platz geholt wurde. Unverkennbar verschwinden die Kapitel der Zeitung, welche uns ohne Interesse lassen, sofort ins Nichts. Was wir aber anderswo beim Morgenkaffee gelesen haben, beschenkt uns mit der Empfindung, heute wieder der ganzen Welt inne zu sein.