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Archiv-Artikel

Die schöne Blinde

Sehen oder Nichtsehen – das ist die Frage, die Stefan Ripplingers Essay „I can see now. Blindheit im Kino“ erörtert. Dass Blindheit im Film zwangsläufig ohne adäquate Darstellung bleibt, scheint von früh an Motor des Kinos gewesen zu sein, sich an ihrer mythisch-metaphorischen Dimension abzuarbeiten

Die Blindheit gegenüber dem eigenen Alltag ist die Voraussetzung, überhaupt ins Kino zu gehen

VON ASTRID HACKEL

„Close your eyes and see“, forderte Nam June Paik die Besucher seiner 2004 im Berliner Guggenheim Museum gezeigten Installation „Global Groove“ auf: „Schließe deine Augen und sieh“. Dass Einsicht ausgerechnet durch Blindheit erreicht werden kann, ist keine neue Erkenntnis. Sie reicht zurück bis in die Antike und die alttestamentarische Theologie. Innere Versenkung und die Abkehr von der Oberflächlichkeit der Welt sind darin fest verankert. Doch Nam June Paiks Aufforderung lässt sich auch im Medienzeitalter verstehen: als Einladung nämlich, alltägliche Bilder und Gedanken eine Zeit lang auszublenden, um die Sinne für etwas anderes, Neues oder auch „unerhört Visuelles“ zu schärfen. Die Blindheit gegenüber dem eigenen Alltag ist laut Stefan Ripplinger die unbedingte Voraussetzung, um überhaupt ins Kino gehen zu können.

„I can see now“ lautet sein schmales Bändchen über Blindheit im Kino. Es versteht sich von selbst, dass der knapp 70 Seiten umfassende Essay weder als Motivgeschichte noch als erschöpfende Abhandlung aller Filme zum Thema Blindheit daherkommt. Die Blindheit, um die es Ripplinger geht, ist fast so alt wie das Kino selbst. Thematisch lässt sie sich zwischen Nam June Paiks Einladung und den Worten „I can see now“, ausgesprochen vom blinden Blumenmädchen in Chaplins „City Lights“, verorten. Endlich wieder sehend, muss sie ihren wohlhabend geglaubten Retter als den erkennen, der er wirklich ist: ein armer Tramp. Sehen bedeutet hier ein Erkennen, aber vor allem, so der Autor in Abwandlung eines Hegel’schen Axioms, auch ein Verkennen im Sinne der Entzauberung. Nachdem die Geschichte auch als modernes Märchen hätte enden können, markiert „I can see now“ den Moment, in dem sich Tramp und Blumenmädchen unwiderruflich verlieren.

Blindheit bleibt im per se visuellen Medium Film zwangsläufig ohne adäquate Darstellung. Genau dieses Dilemma scheint von früh an ein Motor dafür gewesen zu sein, dass sich das Kino immer wieder an den mythisch-metaphorischen Dimensionen der Blindheit abarbeitet und sich kokettierend in der meist weiblichen Figur der schönen Blinden selbst porträtiert. So knapp wie schlüssig dekodiert Ripplinger symbolische und metaphysische Verweisstrukturen. Bei „City Lights“ plädiert er dafür, den ersten Augenaufschlag des Blumenmädchens mit der Einführung des Tonfilms zusammenzudenken, bedeutete diese revolutionäre Neuerung für Chaplin doch nicht nur das Ende der Stummfilmära, sondern auch das der eigenen Karriere. Es sind eben nicht immer schöne Bilder, die den plötzlich Sehenden erwarten.

Um das ständig neu auszuhandelnde Verhältnis zwischen Sehen und Nichtsehen geht es deshalb auch in Ripplingers Essay. Anhand ausgewählter narrativer Filmbeispiele – unter anderem Douglas Sirks „Magnificent Obsession“, Friedrich Wilhelm Murnaus „Der Gang in die Nacht“, Akira Kurosawas „Ran“ und Arthur Penns „The Miracle Worker“ – zeigt er, wie der oder die Blinde im Film indirekt auf die zwischen den Protagonisten, aber auch zwischen Protagonist und Zuschauer herrschenden Blickregime verweist. Jenseits des schon aus der bildenden Kunst bekannten Bildarsenals – der Fokussierung der Hand, des ausgestreckten Arms, des leeren Blicks gen Himmel – werden hier Versuche analysiert, Blindheit auch für den Zuschauer erfahrbar zu machen: über undurchdringliche Schwärze, wie im Thriller „Wait Until Dark“ (1967), oder verwackelte und verzerrte Bilder. Die Wiedergewinnung des Augenlichts wird in Delmer Daves’ „The Hanging Tree“ (1959) in die Scharfstellung des Objektivs übersetzt.

Nicht zufällig begeistert sich das Kino wieder und wieder für die Übergangsmomente: Schwellen, an denen Sehende erblinden und Blinde sehend werden. Die Gleichzeitigkeit von Sehen und Nichtsehen, die blinden Flecke und Unsichtbarkeiten schwingen für Ripplinger als eigentliches Thema in filmischen Blindheitsdiskursen immer mit.

Die Hauptargumentation, dass das Kino die Figur des Blinden nutzt, um über sich selbst nachzudenken, zieht sich durch von der ersten bis zur letzten Seite. Die Kunst, gleich dem menschlichen Auge zu sehen, verfehlt es allerdings – und maßt sich doch an, es zu können. Das Kino, schreibt Ripplinger, „will sich selbst, will seine Bilder überwinden. Es will sehen und die Dinge ergreifen, die es nur zeigt.“ Laufen haben die Bilder vor langer Zeit gelernt – was das Sehen betrifft, stehen sie immer noch vor einer Herausforderung.

Stefan Ripplinger: „I can see now. Blindheit im Kino“. Verbrecher Verlag, Berlin 2008, 80 Seiten, 11 €