Die russische Mannschaft spielt überraschend gut: Ivan, der Sympathische
Wenn unbekannte Spieler große Dinge vollbringen, dann spielt gerade die russische Nationalmannschaft. Macht Russland nicht beinahe - Spaß?
Ich bin ziemlich, um nicht zu sagen, ganz allein vor dem Fernseher, und ich kann gar nicht anders, als es mit Fassung zu tragen: Einem Public-Viewing-Club, der Typen wie mich, also chronische Fußballverweigerer, als Mitglieder aufnehmen würde, wollte ich niemals angehören. Und auch besser so: Im fußballfixierten Freundeskreis lässt sich fehlende Kompetenz nun mal nicht mit Russland-Romantik kompensieren.
Freunden des guten, gerechten und virtuosen Fußballs bietet sich sowieso kaum eine Chance auf einen spielfreien Abend - außer bei einem Spiel wie Russland - Schweden. Denn, okay, Zenit St. Petersburg hat den Uefa-Pokal gewonnen, aber es ist eben trotzdem nur Russland - Schweden. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es seitens der Russen nur halbherziges Ballgetrete. Russischer Profifußball diente als Endstation für drittklassige Sportler aus aller Welt.
20:40 Uhr. Um so besser, wenn ich als Russland-Versteherin beim Einlauf der Spieler alleine bin. Was schon nach Sekunden dramatische Wirkung zeigt: Die Schleusen öffnen sich, Dinijar Biljaletdinov heult zur Hymne, und ich mit ihm. Ich bin bereit, wie gern würde ich jetzt mit meinen Jungs gegen die Schweden, gegen alle Russland-Nichtversteher, gegen die Freunde des guten, gerechten und virtuosen Fußballs in den Kampf ziehen. Kann ich aber nicht. Weil da bereits in der 10. Minute jemand von Tempo, Passgenauigkeit und Spielfreude spricht. Die Freude am Spiel ist mir verdorben. Die restlichen 80 Minuten werden nicht besser: Russland ist total überlegen, imponiert sehr, präsentiert ganz großen Sport und ganz großartige Spieler.
Als die Farce endlich zu Ende ist, outen sich auch noch Waldemar Hartmann und alle anderen, die eigentlich übers Spiel reden sollten, als Philanthropenzirkel, wundern sich, dass da gerade ganz große Dinge von lauter unbekannten Spielern vollbracht wurden. Unbekannt und vor allem undurchsichtig war er ja schon immer, der Russe. Aber heute hat er gelacht. Ihm hats doch tatsächlich Spaß gemacht, und er hat gerecht gespielt. Ich hab ja keine Ahnung von Fußball, aber wenn ich nicht völlig falsch liege, wird hier gerade das, was in anderen Spielen als überdurchschnittliche Leistung bewertet werden würde, zu einem Wunder an Menschlichkeit stilisiert.
Ob ich mich nun irre oder nicht, ich bin irritiert. Weil ausgerechnet die Russland-Versteherin in mir über Russlandbilder jenseits jeglicher Romantik spekuliert: Wenn er sich nicht so freuen würde, der Russe, und wenn er nicht so immun wäre gegen westliche Russlandbilder, könnte er sich allmählich fragen, ob hier positive Diskriminierung im Spiel ist.
Wenn er hintertrieben wäre, der Russe, könnte er sich in die geballte Faust lachen, weil der befußballte Russe der EM-Welt mit seinem feinen Spiel, dem man das viele Geld nicht ansieht, gerade das Bild des neuen "Neuen Russen" skizzieren könnte: Der nicht, wie man den alten "Neuen Russen" kennt, mit Geld, Arroganz und Ignoranz in Westeuropa einfällt. Und der gleichzeitig mit seiner natürlichen Bescheidenheit und seinem kindlichem Gemüt (Arshavin verschießt einen Ball und lacht dann trotzdem befreit) gar nicht weiter entfernt sein könnte vom knallhart kalkulierenden dauergrauen Expräsidenten.
Aber was, wenn das Lachen von Stürmer Andrej Arshavin doch kein kindlich-befreites, sondern ein irr-beklommenes war? Wenn er sich vom Druck, der seit der Roten Karte im EM-Qualifikationsspiel gegen Andorra auf ihm lastete, der Schmach, die der bekennende Patriot allein durch die Diskussion um einen eventuellen Ausschluss aus der Regierungspartei "Einiges Russland" erfahren hat, gar nicht anders befreien konnte als durch hyperaktives Rumgeballere und hysterisches Lachen? Wenn sich der russische Sportminister gegen Arshavins Parteiausschluss und für dessen EM-Teilnahme eingesetzt hat, weil der Modedesigner und Parteipolitiker Arshavin genau das Bild des Russen präsentiert, der die Gegensätze "Millionärs-Proll" und "Putin" zu einer neuen Mitte hin korrigiert: jung, modisch, gebildet, patriotisch.
Und was, wenn Witali Mutko (dem Sportminister und nebenbei noch Vorsitzenden des russischen Fußballverbandes) das Ansehen der russischen Nationalelf im Westen und der Ausgang der Europameisterschaft ganz egal sind, weil andere Dinge auf der Prioritätenliste stehen: 2010 ist WM in Südafrika.
Bis dahin soll der russische Fußball in Russland schließlich restauriert werden, und zwar mit Russen: In der russischen Meisterschaft soll die Zahl der Legionäre bis nächstes Jahr auf fünf pro Team reduziert werden. Die nationale Fußballakademie, eine Stiftung von FC-Chelsea-Besitzer Roman Abramovitsch, investiert derzeit etwa eine halbe Milliarde Euro in die Errichtung von an die 80 Fußballleistungszentren in Russland.
EM-Sieg, WM-Sieg - Spekulationen fern jeder Russland-Romantik! Dascha, meine Freundin aus St. Petersburg, ist extra zum Russland-Schweden-Spiel angereist. Bevor sie nach Innsbruck gefahren ist, hat sie mir gesagt, dass Fußball zwar nicht unabhängig von Politik und Wirtschaft ist, jedoch am besten unabhängig davon zu betrachten sei. Sie liebe Zenit St. Petersburg, sagt sie, sie liebe Fußball und ihr Land, und sie vertraue, zumindest hinsichtlich des Erfolgs, Gazprom, der Nationalen Fußballakademie, Abramovitsch und dem Fußballverband sowie, ja, der Nationalmannschaft - der Sbornaja - und ihrem Trainer Guus Hiddink natürlich auch.
Das Spiel ist aus. Waldemar Hartmann und seine Freunde haben auch nichts mehr zu sagen, und als ich den Fernseher ausschalte, kommt eine SMS von Dascha: "Wir haben gesiegt. Wir sind cool. Ich habe keine Stimme mehr. Die EM ist super!"
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