Die letzten zehn Tage: Hoeg gegen Goldt
Das Jahrtausend geht melancholischim Nebel der Weihnachtsfeiern zu Ende
Samstag. Am Morgen gab es Kontoauszüge. Das Finanzamt hat 835 Mark überwiesen. Das Finanzamt Kreuzberg ist mein Freund. Es lässt mich nicht im Stich. Weniger schön, dass ich im vorletzten Jahr 17.801,86 Mark verdient habe, denke ich allerdings nicht in dieser Schärfe, sondern eher im Nebel der betrieblichen Weihnachtsfeier vom Vorabend im Schöneberger „Strada“. Am gleichen Tisch saßen zwei junge Mädchen. Eine hieß Wiebken und malte heftig auf dem weißen Einwegtischtuch herum. Kleine Männchen und Texte mit lauten Buchstaben. Unter anderem stand da „Wer ist die taz?“. Der PDS-Kandidat Christian Specht verteilte im Weihnachtsmannkostüm Geschenke. In gelben und grünen Tüten gab es: eine etwas süßlich schmeckende „Rarität aus Schwarzbier mit nachträglichem Invertzuckersirupzusatz“ („Prosti – Das Bier für die ganze taz-Familie“), einen „Tom-Kalender“ sowie vier verschiedene Hörcassetten aus dem „Hör-Verlag“.
Aus Quatsch kifften wir im schmalen Gang vor den Klos. Einem Praktikanten schien schlecht zu werden. Die Wahrheit trug eine lustige Weihnachtsmütze. Wolf Vetter von der Hausmeisterei freute sich, dass die taz-Fußballmannschaft nun ein eingetragener Verein ist. Melancholisch, wie mir schien, stand Matti Lieske mit einem weinroten Pullover vor den Kartons mit den Geschenken, in dem wir hemmungslos wühlten, um Birgit Vanderbeke gegen Philip Kerr, Peter Hoeg oder Max Goldt auszutauschen.
Vernebelt ging der Samstag so dahin und machte dazwischen zwei Stunden halt am S-Bahnhof Westend. Am frühen Abend steht man auf der Brücke am Spandauer Damm und schaut auf die beweglichen Lichter der Autobahn! Eine Weihnachtsmütze mit blonden Locken verteilt den Berliner Kurier „gratis“. Die Ausstellung im Bahnhof Westend heißt „HorizontalVertikal“. Da saßen die Künstler und sonst saß da keiner. In der hohen Eingangshalle hängen Gesichter an Schnüren und drehen sich surrend. Es gibt sanft psychedelische Videoinstallationen von Almut Middel, die die Leuchten und Neonzeilen einer Großstadtstraße aus einem fahrenden Auto aufgenommen hat, und eine seltsam schöne Installation der russischen Künstlerin Diana Obinja, die 1.750 Angelschnüre, mit denen man Wale angelt, rechteckig angeordnet von der hohen Decke hängen lässt. Ihre bläulich schimmernde Installation verändert sich im Lauf der Zeit. Durch ihr Eigengewicht werden die Schnüre immer gerader. Irgendwann wird man ein Kreuz angedeutet finden, denn sie hat zwei unterschiedlich dicke Walangelschnurgrößen verwendet. Dazu hört man gespenstische Sachen. Dies alles ist bis zum 21. 12. hier, wohin dann damit, weiß Diana Obinja noch nicht. Wer kleine Bilder malt, hat es einfacher.
Am Abend verabschiedete sich der ehemalige taz-Chef und Bürospielleiter Michael Sontheimer aus Berlin, um nach London zu gehen. Bommi Baumann sprach lustig über den Herzinfarkt, den er vor drei Monaten hatte. Es tat gar nicht weh. Seine Überlebenschance hätte 50 Prozent betragen. „Ist Ihnen das klar, Meister?!“ Er war völlig begeistert von der Vorstellung, dass Kohl und Krenz nun in eine Zelle kommen und wollte das später als Graffitiforderung an alle Hauswände schreiben.
Detlef Kuhlbrodt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen