Die letzten 10 Tage: Working Class Hero
Das „wirkliche Leben“ findet bei Radio Eins statt, in der Millenniumshitparade
Das Wetter am Morgen ist grau und unentschieden. In der Millenniumshitparade von Radio Eins läuft „Working Class Hero“ von John Lennon, Platz 697, und wird aus antisozialistischen Ressentiments nach einer Minute ausgeblendet. Dann: Idiotenjingle, Werbung, Nachrichten: „Zum Stand der Gespräche: Dirk Biedermann. Brandenburg gilt als Ort, von dem die Euthanasie ausging. Vereinzelt Schnee, Griesel oder Sprühregen bei maximal 2°.“ Auf Platz 693: „She's leaving home“ von den Beatles, ein Stück fragwürdig verkitschter Teenie-Traurigkeit. Mit 15 war das die Nummer 1 meiner inneren Charts.
So eine Millenniumshitparade könnte schön sein. Je länger man die meist alten Hits nicht gehört hat, desto besser können sie Sachen aufrufen, an die man sonst nicht rankommen würde. Dass die Stücke ausgeblendet und gefiltert werden, beweist, dass die Popmusik eigentlich hassen. Gestern redete die Moderatorin vom „legendären“ Ton-Steine-Scherben-Album „Keine Macht für Niemand“ und spielte „daraus“ den schlimmen Schmusehit für Linksradikale „Komm schlaf bei mir“. In echt handelte es sich um eine Neuaufnahme aus den Neunzigern, die noch peinlicher war als das Original. So ebnet deren Denke alles ein. Eben gab’s „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ auf Platz 642, auch remastered, aber textlich besser.
Später: Wolf Biermann mit seiner Version des Ché-Guevara-Titels. Wie sich der schleimige Liedermacher mit dem Tod des gescheiterten Helden schmückte, gehört zum absolut Widerwärtigsten. Solche Leute regieren hier.
Ich führe beruflich ein unglaublich privilegiertes Leben und weiß nicht so recht, wieso das so anstrengend ist. Gestern war alles supernormal, mit einkaufen, essen, Schach spielen, rauchen. Wir sprachen eher über angemessene Formen der Weltbetrachtung als über die Möglichkeiten eines geglückten Lebens. Matthias denkt, je chaotischer, desto näher am „wirklichen Leben“. Ich bin da eher skeptisch.
Michael rief an und sagte bewegt, dass Hanna ihr Baby nun doch schon bekommen hat. Es heißt Bruno. Katrin hatte Kopfschmerzen und arbeitete an ihrem Buch. Mel, die arbeitslose Raverin aus dem Haus gegenüber, kam mit ihrem Hund „Schröder“, weil sie sich langweilte und grad Licht war. Wir spielten Darts. Sie sagte, Heiligabend im Tresor sei es bis elf großartig gewesen. Am Rande: Klaus Bednarz mit einer sehnsüchtigen „Morgenstimmung auf dem Baikal“. Draußen sind die Kanonenschläge noch vereinzelt.
„Nachtaktive Frisösen“ baten, dass man sie anrufen solle. Am besten ist die Schwarz-Weiß-Domina von „Gehorch mir“, die mit so einer linkischen Befehlsstimme sagt: „Hier rufst du jetzt an!“ Die Ratte in der Mittenwalder Straße schien fast zahm zu sein. Jedenfalls rannte sie erst spät weg, als ich ihr entgegen ging. Im Taxi nachts durch die Stadt zu fahren ist eigentlich das Schönste, was es gibt. Detlef Kuhlbrodt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen