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Die konstruktive Seite der Intifada

■ Palästinenser in der besetzten Westbank beginnen die Organisation ihres Alltags in die eigene Hand zu nehmen / Besuch eines palästinensischen Musterdorfs

Aus Jerusalem Beate Seel

Regenwolken hängen über dem kleinen Städtchen in der israelisch besetzten Westbank. Die hellen ein– oder zweistöckigen Steinhäuser erstrecken sich über ein weites Gebiet; der Geruch frisch umgepflügter Felder hängt in der Luft. Sämtliche Geschäfte mit Ausnahme der Apotheken sind gemäß der Anordnung der Führung des Aufstands geschlossen. Doch der triste Eindruck, den der 12.000–Seelen–Ort auf den ersten Blick vermittelt, täuscht. Unter der Oberfläche sind rege Aktivitäten im Gange. Eine offene Tür in einem halbfertigen Gebäude mit Geschäfts– und Lagerräumen erregt meine Neugier. Ein Streikbrecher? Keineswegs. Neun Jungen und Mädchen im Alter von dreizehn bis vierzehn Jahren sitzen um einen Tisch, aufgeschlagene Schulbücher auf den Knien. Ein Brett, an einen ausrangierten Kühlschrank gelehnt, dient als Tafel, Kreide und Schwamm liegen griffbereit daneben. Wie jeden Vormittag zwischen neun und elf Uhr sind die Kinder des Stadtviertels hier zum Unterricht zusammengekommen. Im Moment wird gerade eine Arabisch–Stunde abgehalten. Thema ist die Diskussion in der UNO anläßlich der Ermordung von Abu Jihad, der Nummer zwei der PLO, in Tunis vor einigen Wochen. Die Lehrerin ist ohne Beschäftigung, seit die Schulen zu Beginn der Intifada geschlossen wurden. Dieser Raum wurde vom Besitzer des Gebäudes zur Verfügung gestellt, Tisch und Stühle von Eltern und Nachbarn beigesteuert. Ein paar Straßen weiter drängen sich dreizehn Erstklässler auf der Veranda eines Privat–Hauses zusammen, wo sie allmorgentlich im Schreiben und Rechnen unterrichtet werden. Hier gibt es sogar eine richtige kleine Tafel. Die Organisation des Unterrichts fällt in den Aufgabenbereich der Nachbarschaftskomitees, die sich drei Monate nach Beginn des Aufstands gebildet haben. Alle Kinder eines Jahrgangs werden in ihrem Viertel zu einer Klasse zusammengefaßt. „Die Kinder kämpfen darum, in unsere Klassen zu kommen“, erzählt einer der Organisatoren. „An jedem Monatsende gibt es Geschenke für die drei Besten eines Jahrgangs, um sie zu motivieren. Die Kinder sollen die Schule und ihr Wissen nicht vergessen. Erziehung und Bildung sind für uns Palästinenser eine sehr wichtige Angelegenheit; derzeit wird Arabisch, Englisch, Mathematik, Physik und Chemie unterrichtet. Später, beim Mittagsessen in der christlichen Familie, beklagt sich die Tochter Alis darüber, daß noch keine Klassen für die Oberschülerinnen eingerichtet wurden. Da in den einzelnen Vierteln nicht genügend Jugendliche für eine Klasse zusammenkommen, müßten diese Schulen zentral organisiert werden. Zentrale Einrichtungen aber könnten die Besatzungsbehörden leicht schließen. Alis Frau Nazira entschuldigt sich für das karge Mahl, das aus Safranreis mit Huhn besteht; dazu gibt es Wein und Saft. „Es tut mir leid, daß ich dir keine Süßigkeiten anbieten kann“, sagt sie, „aber die Geschäfte sind geschlossen, und wir haben kein Geld. Ich hoffe, wir haben bald unseren eigenen Staat, denn die Versorgungsprobleme und die ständige Anspannung ma chen uns müde. Nachts geht uns soviel durch den Kopf, daß wir oft nicht schlafen können.“ Zu den alltäglichen Unannehmlichkeiten der Intifada zählen nicht nur der seit Monaten andauernde Streik und die Auseinandersetzungen mit den Soldaten, die Verletzten und Toten, sondern auch die Abriegelung der Ortschaften oder ganzer Regionen. Die in Israel arbeitenden Palästinenser müssen nicht nur auf ihr Einkommen verzichten, auch der Nachschub an Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Gebrauchs ist gestört. Hier bemüht sich das Landwirtschaftskomitee um Abhilfe. Ich finde das Komitee in einer primitiven Wellblechhütte. Sie ist so winzig, daß die fünf Mitglieder des Komitees nur stehend konferieren können. Der Bewohner eines Nachbardorfes fährt vor und fragt nach Tomaten– und Auberginensetzlingen. Er muß unverrichteter Dinge wieder abziehen, denn nach einer mehrtägigen Blockade des Dorfes muß der Nachschub neu organisiert werden. „Wir bemühen uns, die Leute in dieser kritischen Lage mit den wichtigsten Dingen zu versorgen“, erklärt Abdelhalim, Mitglied des Landwirtschaftskomitees. „Mit dem Bepflanzen der Gärten und des unbebauten Bodens geben wir unseren Leuten was zu tun und machen uns gleichzeitig Schritt für Schritt von der israelischen Wirtschaft unabhängig. Früher haben die Dörfer die Städte versorgt, jetzt ist es umgekehrt. Langfristig gesehen müssen wir unsere eigene Ökonomie aufbauen. Dann wird Israel einsehen, daß die Kosten der Besatzung höher sind als die eines Rückzugs aus der Westbank und dem Gaza–Streifen.“ Ein hochge stecktes Ziel angesichts der Überschwemmung der besetzten Gebiete mit israelischen Waren und angesichts der 100.000 Palästinenser, die in Israel arbeiten. Eines allerdings hat die Intifada erreicht: Das Ohnmachtsgefühl der Palästinenser vor der Übermacht Israels hat einem neuen Selbstbewußtsein Platz gemacht. Die Erfahrungen im Alltag des Aufstands eröffnen Räume für soziales Lernen und neue Strukturen. Abdelhalim und seine Kollegen folgen mit ihrer Arbeit lediglich den wiederholten Aufrufen der Führung des Aufstands zur Selbstorganisation. Bei einem Gang durch das kleine Städtchen läßt sich leicht feststellen, daß diese Anweisungen weitgehend befolgt werden. Praktisch jeder Quadratmeter Boden ist bepflanzt. Schwarze Plastikschläuche mit kleinen Löchern für die Tropfbewässerung ringeln sich über die Erde. Es ist ein erklärtes Ziel des Komitees, der Bevölkerung gleichzeitig die modernen, von der Besatzungsmacht benutzten Anbaumethoden beizubringen. Dabei hat der Ort einen ausgesprochen städtischen Charakter und offenbar eine wohlhabende Mittelschicht. Das spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Landwirtschaftskomitees. Abdelhalim, der einzige Bauer, arbeitet mit einem Agraringenieur, zwei Ärzten und einem Ingenieur zusammen. Für die armen Familien des Ortes wurde mittlerweile ein eigenes Komitee ins Leben gerufen. In einer Erhebung über die Lage in ihrem Viertel haben die Nachbarschaftskomitees vor einiger Zeit die Bevölkerungs– und Einkommensstruktur untersucht. Bei sozialen Härtefällen, etwa Familien, deren Ernährer im Gefängnis sitzt, wird finanziell geholfen. Auch die polizeilichen Aufgaben liegen in den Händen der Komitees. Ahmad, einer der nach dem Konsensprinzip bestimmten Vertreter seines Viertels mit 420 Einwohnern, hat gerade seine Woche nächtlichen Wachdienstes hinter sich. Einige Personen postieren sich jeweils zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens auf den Dächern der Häuser und achten auf Einbrecher, israelische Siedler oder Soldaten. „Fälle von Diebstahl hatten wir bisher nicht“, berichtet Ahmad, „aber dreimal sind nachts Siedler gekommen, haben Fensterscheiben zerbrochen und ein Auto demoliert.“ Wenn Soldaten einrücken, um nächtliche Festnahmen vorzunehmen, wird die Bevölkerung alarmiert. Angesichts des Spektrums an Aktivitäten, das die Komitees abdecken, fällt mir schließlich nur noch die Frage ein, wann die Komitees ihre eigenen Ausweise verteilen werden. „Wenn wir einen Staat haben“, lautet lakonisch die Antwort. „Selbst wenn die Demonstrationen aufhören sollten, wird die Intifada weitergehen, bis Israel schließlich durch einen unbefristeten Streik und einen umfassenden Boykott auf allen Ebenen zum Rückzug aus den besetzten Gebieten gezwungen wird“, sagt Ali. „Die Intifada gleicht einer Person auf einer Leiter, deren unteres Ende Feuer gefangen hat, Die Flammen springen von Sprosse zu Sprosse. In dieser Situation kehrt man nicht um, sondern steigt höher und höher, bis man sein Ziel erreicht hat.“

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