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■ VorlesungskritikDie institutionalisierte Anarchie

Warum die Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universität darauf verfielen, ihre neu eingerichtete Gastprofessur nach Georg Simmel zu benennen, begründeten die Redner der Eröffnungsveranstaltung nicht. Jedenfalls hatte es zur Folge, daß Mario Rainer Lepsius den ersten Abend seiner vierteiligen Vorlesung „Zur Soziologie der Institutionen“ Simmel widmen mußte.

Dabei hatte der Philosoph und Soziologe, der um die Jahrhundertwende an der Berliner Universität lehrte, mit Institutionen herzlich wenig am Hut, wie Lepsius selbst sagte: „Simmel spricht nicht über Institutionen. Er behandelt allenfalls die Folgen von Institutionen, nicht ihre Konstituierungsprozesse.“

Lepsius, der seinen ersten Vornahmen gewöhnlich abkürzt und vor 66 Jahren in Rio de Janeiro geboren wurde, ist Professor in Heidelberg. Eigentlich hätte der renommierte Soziologe bereits im Sommersemester an der Humboldt-Universität lehren sollen, doch die Berufung verfing sich damals im Unterholz der Verwaltung. Der Gastprofessor nahm das Chaos gelassen, wandte er sich doch gerade gegen die „Regelungswut“ der Institutionen, die überall „Handlungsbedarf“ witterten. Simmel pries er als „Apologeten des Konflikts“. Die „zunehmende Geschwindigkeit der Kreuzungen sozialer Kreise“, die Simmel als Merkmal der Moderne diagnostizierte, habe einerseits „neue Freiheiten und Optionen der Lebensführung“ mit sich gebracht, andererseits aber auch die Unterwerfung unter die Zwänge neuer Funktionszusammenhänge. Mit einem davon hatte sich Simmel in seinem bekanntesten Werk, der 1900 erschienenen „Philosophie des Geldes“, beschäftigt.

Simmel habe, so Lepsius, „das Phänomen der Ambivalenz“ analysiert, „ohne Partei zu ergreifen“. Das nahmen ihm die Zeitgenossen übel: Eindeutigkeit sollte in ihren Augen die Dilemmata der Moderne lösen, nicht die Anerkennung der Ambivalenz. Daß Simmels Minderheitenposition heute eine breite Akzeptanz finde, wertet Lepsius als Zeichen für den Wandel der politischen Kultur in Deutschland insgesamt, der „Verwestlichung der Bundesrepublik seit 1945 bis zum heutigen Tag“. Den Bogen von Simmel zu den Institutionen schlug Lepsius schließlich doch noch. Anhand der Debatte um den Paragraphen 218 versuchte er die „Institutionalisierung eines Wertkonflikts, der als solcher aufrechterhalten werden soll“, zu demonstrieren. Simmels Auffassung von der „objektiven Kultur“ als „Feld des Mannes“ und die damit verbundene „Hoffnung, daß der entfremdete Mann durch die nichtentfremdete Frau sich erlösen lasse“, mochte Lepsius allerdings nicht teilen. „Die Rollentrennung ist keine Lösung für Kulturkonflikte systematischer Art“, widersprach er und plädierte statt dessen für eine „kompliziertere Institutionalisierung von Kulturkonflikten, die nicht mehr auf die Geschlechterdifferenz ausweichen kann“. Um seine Botschaft gegen den Wunsch nach Eindeutigkeit unters Volk zu bringen, verzichtete Lepsius in der abschließenden Diskussion gar auf die Manieriertheiten des Soziologendeutschs, denen er sich zuvor ausgiebig hingegeben hatte. „Sie mögen die Ambivalenz nicht. Das muß christlich-jüdisches Erbe sein“, hielt er einer Zuhörerin entgegen: „So anarchistisch wollte ich mich heute geben.“ Ralph Bollmann

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