: Die hohe Kunst der Vermischung
Christoph Schlingensiefs Antwort auf „Deutschland sucht den Superstar“ heißt „Freakstar 3000“. Aus der Viva-Serie ist jetztein Film geworden: eine glückliche Koppelung von Behinderung, Pop, Stilwillen und ein bisschen Sehnsucht nach Eigensinn
von HARALD FRICKE
Man fährt eine ganze Weile mit der S-Bahn nach Lichtenrade. Von dort geht es noch einen halben Kilometer die Mozartstraße entlang bis zu den Häusern Nummer 21 und 22. Hier war Schluss mit Westberlin, am südlichsten Zipfel der Stadt, direkt an der Mauer, dahinter Grenzbefestigungsanlagen und Märkische Heide. Früher machte man die Tour manchmal mit dem Auto so weit raus von Kreuzberg aus, um Besuchern zu zeigen, dass man eingesperrt ist. Dieses seltsame, von der fremden Staatsmacht namens DDR herbeigeführte Umschlossensein, das gab einem – aus heutiger Sicht schwer zu erklären – ein gehöriges Maß an Selbstgewissheit in den Achtzigerjahren.
2002 hat Christoph Schlingensief hier gedreht, sieben Tage lang, im Behindertenwohnheim Tiele-Winkler-Haus. Nicht wegen seiner Liebe zur historisch aufgeladenen Tabuzone Deutschland, im Gegenteil: „Ich habe vier Heime besucht, und das war völlig anders, laut, hell, temperamentvoll.“ Am Ende lagen sechs Folgen von „Freakstars 3000“ vor, einer Mini-Soap für das Popfernsehen, die vorletzten Sommer auf der Abendschiene bei Viva zu sehen war. Schlingensief spielt darin mit Behinderten in einer Art Parallelaktion „Deutschland sucht den Superstar“. Für das Casting müssen alle ihre Lieblingslieder singen. Einige können den Text nicht richtig erinnern, dann reicht es, wenn sie brüllen, kieksen oder summen. Das stört nicht, weil es für die Jury ohnehin mehr „auf die Ausstrahlung“ und „respect, respect, respect!“ ankommt. Deshalb schaffen fast alle die erste Prüfung, und nach dem dritten Durchgang, bei dem die Mitglieder der Band „Mutter sucht Schrauben“ ausgewählt werden, sind noch immer sieben von 16 Kandidaten mit im Boot.
Während sich in der RTL-Show mit Bohlen laufend junge Leute unter Erfolgsdruck bewähren müssen, bleibt die Behindertenrunde bei Schlingensief locker bis zuletzt. Niemand wird hier auf dem Weg zum Nachwuchsentertainer gemaßregelt, niemandem wird eine Karriere versprochen, niemand interessiert sich überhaupt dafür, was passiert, wenn der erste Auftritt vor Publikum ansteht. Stattdessen hat sich in gerade mal drei Stunden Sendezeit das schlingensiefsche Happening zu einem Bündel aus Aktivitäten rund ums Fernsehen entwickelt, das in unzähligen TV-Formaten von den Beteiligten weitergesponnen wird: Der sprechbehinderte Horst Gelonneck entpuppt sich in „Teleshopping“-Sequenzen als hervorragender Rührquirl-Vorführer, die schizophrene Kerstin Graßmann beweist ihr Talent in einem spontan improvisierten „Presseclub“, bei dem sie als taz-Journalistin auftritt und die Regierung beschimpft.
Mit jeder Folge wurde einem das Personal auf liebenswerte Weise näher gebracht. Jetzt gibt es „Freakstars 3000“ in einer von der Filmgalerie 451 produzierten Kinofassung, für die aus 30 Stunden Material 74 Minuten zusammengeschnitten wurden. Künstlerische Leitung und Idee: Christoph Schlingensief. Regie: Achim von Paczensky, das ist der Mann, der im Film als Heavy-Metal-Headbanger angezogen auf der Gitarre ziemlichen Krach fabriziert. Tolle Idee, fand das Publikum auf den Hofer Filmtagen und tobte; tolle Idee, fanden auch die paar hundert Premierenbesucher am Sonntag in der Volksbühne, schon wegen Horst Gelonneck, der seine fünf Minuten im Rampenlicht hatte, vor Begeisterung ständig „Kriegstars“ schrie und den Zuschauern viel Applaus wünschte.
Manche Gesichter sind einem im Reality-Chaos der Casting-Show bereits vertraut. Werner Brecht ist dabei, mit dem Schlingensief für seine Hamburger Obdachlosen-Aktion „Bahnhofsmission – 7 Tage Notruf für Deutschland“ im Winter 1997 gearbeitet hat; Achim von Paczensky und Helga Stöwhase kamen ein Jahr später mit der Aufführung von „Rocky Dutschke“ an der Volksbühne dazu und gehören seither zum festen Stamm der Aktivisten; und Mario Garzaner kennt man als Conferencier aus der Zeit, als Schlingensief mit seiner Partei „Chance 2000“ für den Bundestag kandidierte. Lauter Bekannte aus Film, Funk, Theater und Performance also, die bei Schlingensief offenbar „das Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft“ gefunden haben, das er für seine „postcaritative Hilfsorganisation“ propagiert: Außenseiter stehen im Mittelpunkt, dürfen sich selbst als Stars erfinden.
Kein schlechter Gedanke, zumal im Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit ja auch der Makel seine Nische gefunden hat. Jeansfirmen setzen Models mit Down-Syndrom ein, eher augenzwinkernd und ohne groß ans Mitgefühl appellieren zu müssen. Der Unterschied zwischen den eigenen Betrachterwünschen und deren derangierter Darstellung ist einkalkulierte Produktadelung: Wo selbst das Andere im Konsum frohlockt, darf auch ich mir nehmen, was ich will. Insofern ist die Authentizität von Behinderten durchaus das ideale Passstück einer zersplitterten Gesellschaft aus unzähligen anonymen Ich-AGs.
Schlingensief allerdings geht den umgekehrten Weg, er nimmt dem Anderssein die Exotik und insistiert auf dessen Normalität. Seine Freakstars hören Volksmusik und Schlager, das ist zwar auch nicht ganz mehrheitsfähig, aber vom Außenseiterstatus weit entfernt. Überhaupt spielt Behinderung bei Schlingensief bloß eine Rolle unter vielen, sie ist eine Ebene mehr im Pluralismus der Darstellungen. Das hat sich mit der Zeit zu einem eher schwiemeligen Entgrenzungsprogramm hochgeschraubt, manchmal funktioniert es aber auch als politisches Statement: „In dieser von allem freigestellten Gegenwelt wird auch gearbeitet, wird Sinn produziert und dem Leben auf den Grund gegangen“, hieß es in einem Manifest von „Chance 2000“ schon 1998.
Die Systeme gleichen sich an: High, Low, Outsider oder Insider Art, alles ist willkommen. Erst diese Entropie jeder sozialen und kulturellen Distinktion erzeugt das eigentliche Chaos, jene Momente echter Nicht-Dramaturgie, auf die es Schlingensief ankommt. Irgendwer trommelt unbeirrt, ein anderer krakeelt, schon noch theatermäßig, aber eben nicht als Übersetzung von Leben in eine Kunst der Unmittelbarkeit, sondern im Vollzug des Alltäglichen. Dass diese tief rührende Banalität leicht wieder aus dem Blick gerät, liegt am institutionellen Rahmen, an den man auch bei Schlingensief stößt. Selbst das Pfahlsitzen im Church-of-Fear-Circus auf der Biennale in Venedig kam nicht ohne die Schirmherrschaft des Betriebs aus: Irgendwo wartet immer ein Grußwort, egal ob von Bazon Brock, Wolfgang Thierse oder Uta Ranke-Heinemann. Was soll’s, man muss die Foren nutzen, bis sie fallen.
Zurück nach Lichtenrade, in den Hexenkessel von „Freakstars 3000“. Denn da ist noch etwas anderes, was die Kandidaten jenseits ihrer Behinderung vereint: Bis auf den Österreicher Garzaner sind alle in der DDR der 50er-Jahre geboren. Tatsächlich liegen mehr Gemeinsamkeiten in ihrer Sozialisation als in der spät entdeckten Freude an Kultur. Damit sind zwiespältige Erfahrungen verbunden, wie sie die Leiterin des Tiele-Winkler-Hauses wenig euphorisch schildert: „In der DDR bedeutete Integration, ob jemand, der behindert war, eine Beschäftigung fand oder nicht. Da wurde Arbeitsfähigkeit oft sehr weit ausgedehnt, sodass offiziell die Zahl der in Heimen betreuten Behinderten recht niedrig gehalten werden konnte.“ Diese Handhabe spiegelt sich auch in den Statistiken wider: Waren 1985 in der gesamten DDR 41.600 Behinderte in Betrieben oder an geschützten Einzelarbeitsplätzen untergebracht, so war es neun Jahre später nur noch etwas mehr als die Hälfte. Der Rücklauf ist nicht bloß ein Alarmsignal, dass heute im Osten der Bundesrepublik zu wenig für die gesellschaftliche Eingliederung von Behinderten getan wird. Sie macht kenntlich, dass der Arbeitsbegriff in der DDR eine Frage der Auslegung durch den Staatsapparat war. Was besagt ein Job als Zementsackschlepper oder als Hauswirtschaftshilfe über soziale Verantwortung? Konnte ein Behinderter nicht in einem Betrieb abgestellt werden, wurde er in einer psychiatrischen Abteilungen weggeschlossen.
Auch hier trifft sich im Nachhinein Schlingensief mit Beuys, das Gespür für den Mehrwert künstlerischer Prozesse und das noch immer nicht ganz zugeschüttete Potenzial von Wirklichkeit. Dass Helga Stöwhase lieber dichtet als Treppenhäuser putzt, hat der Regisseur genau erkannt und sie daraufhin engagiert, sodass sie sich nun in „Freakstars 3000“ als Nico-Double mit schwarzer Sonnenbrille in Szene setzen kann. Das ist einer der aufregendsten Momente in dem nicht gerade ereignisarmen Durcheinander. Plötzlich hat auch Helga Stöwhase ein fremdes Image angenommen – auch sie stellt womöglich etwas dar, was sie gar nicht ist. Wo sonst stets von der Authentizität des behinderten Menschen die Rede ist, sieht man ihr das kulturell codierte Double an: Sie wird verwechselbar, damit verfliegt jeder Gedanke ans Außenseitertum. Was bleibt, ist eine lose Koppelung aus Pop, Stilwille, Behinderung und ein bisschen Sehnsucht nach Eigensinn. Diese hohe Kunst der Vermischung hat Schlingensief mit „Freakstars 3000“ hinbekommen: Die Aktion ist eine Plattform geworden für das, was mit Blick auf 68 ein wenig pathetisch einmal selbstbestimmtes Leben hieß. Alle sind gemeint, das ist die Chance hinter dem Scheitern.