: Die höchste Autorität auf Erden
„Ich würde alles tun, um Michel hier rauszuholen“, sagt ein ehemaliges Sektenmitglied. Michel Tabachnik selbst sieht sich als Sündenbock der Justiz
aus Grenoble DOROTHEA HAHN
Luzifer? – „Ein enttäuschter Engel.“ Das von Außerirdischen gezeugte Baby? – „Daran wollte ich glauben.“ Klopfzeichen aus dem Jenseits? – „Interessante metaphysische Botschaften.“ Michel Tabachnik verzieht keine Miene, während er vor dem Strafgericht in Grenoble esoterische Erläuterungen liefert. Der Vorsitzende Richter Gérard Dubois spielt ihm die Bälle zu. Spricht von „kosmischer Energie“ und vom „Opfer durch das Feuer“. Und nennt den toten Sektenguru Joseph Di Mambro wie einen alten Vertrauten „Jo“. Dann bedankt er sich artig bei Tabachnik. Für die „Erhellungen“.
Eigentlich ist der 58-jährige Michel Tabachnik Dirigent. Mit seinem Repertoire der klassischen Moderne hat er weltweit Konzertsäle erobert. Aber seit dem Massensterben im „Sonnentemplerorden“ Mitte der 90er-Jahre ist es still um ihn geworden. Auf seiner Karriere lasten 74 tote „Sonnentempler“. Bei den Musikveranstaltern hat sich herumgesprochen, dass Tabachnik die Doktrin der Sekte verfasst hat. In deren Mittelpunkt steht der „Tod durch Verkohlung“. Tabachnik war es auch, der im September 1994 bei einem Vortrag vor Sektenanhängern in einem Luxushotel in Avignon die Auflösung der Sekte und – für Initiierte unmissverständlich – den „Transit nach Sirius“ ankündigte.
Wenige Tage danach standen die Schweizer und die kanadischen Behörden vor Leichenhaufen. 15 Monate später wiederholte sich das Szenario in Frankreich, wo 1995 im Dezember 16 vergiftete, erstickte und erschossene Sektenanhänger auf 1.200 Meter Höhe in Sternformation auf einer Lichtung im Vercors-Massiv lagen. Seit Ostern steht Tabachnik in Grenoble vor Gericht. Die Anklage: „Bildung einer kriminellen Vereinigung mit dem Ziel, Morde vorzubereiten“. Sollte er am Monatsende für schuldig befunden werden, stehen ihm bis zu zehn Jahre Gefängnis bevor.
Der Angeklagte fühlt sich als Opfer, als Sündenbock der französischen Justiz. In den letzten Wochen drohte er sogar, seinem Prozess fernzubleiben. „Aus Angst“, wie er sagt. Als er schließlich doch in Grenoble auftaucht, erklärt er, „alles“ sagen zu wollen, weil er „nichts zu verbergen“ habe. Seither lässt Tabachnik vor allem seinen Verteidiger Francis Szpiner sprechen.
Auch von seiner Sekte – zumindest von ihrem verstorbenen Guru – fühlt Tabachnik sich missbraucht. Di Mambro „hat meine erste Frau mit in den Tod genommen“, klagt er, und „er hat mich manipuliert“. Darüber, dass ihm der Guru 400.000 Francs Honorar für seine intelektuellen Dienste auf ein Konto in Panama überwies, spricht er erst nach einer Verhandlungswoche.
Im goldenen Talar
Vor der Justiz hat Tabachnik lange bestritten, überhaupt zum Sonnentemplerorden gehört zu haben. Erst als Fotos auftauchten, die ihn im goldenen Talar zeigten, dem Zeichen der Zugehörigkeit zur obersten Stufe der Sektenhierarchie, änderte er seine Taktik. Führungsmitglied will er bis heute nicht gewesen sein: „Ich hatte damit nichts zu tun.“ Dabei war er nicht nur Ideologe, sondern schon früh auch Amtsträger. Anfang der 80er-Jahre machte ihn Di Mambro zu seinem Nachfolger an der Spitze der „Foundation Golden Way“, dem Herzstück der Sekte, die aus zahlreichen legalen Gruppen, Stiftungen und Bruderschaften sowie einer klandestinen Struktur bestand. „Tabachnik war“, so der französische Sektenexperte Jean-Marie Abgrall vor dem Grenobler Gericht, „die Nummer 3 der Sekte. Hinter Joseph Di Mambro und Luc Jouret“. Der Experte mag nicht einmal ausschließen, dass Tabachnik ihr „geheimer Großmeister“ war – die oberste irdische, wenngleich unsichtbare Autorität der Sekte. Nach dem Tod der beiden Gurus bei den „Massenselbstmorden“ in der Schweiz ist Tabachnik der letzte Überlebende von der Spitze.
Das Gericht hat über hundert Zeugen geladen. Ein Drittel davon – darunter zahlreiche Exangehörige der Sekte – ist nicht erschienen. Wer gekommen ist, zeigt im Zeugenstand seine Sympathie für den Angeklagten. Einen „spirituellen Bruder“ nennt ihn Louis Faucon, früher Gärtner in einem Zentrum der Sekte. „Ich würde alles tun, um Michel hier rauszuholen.“ Viele geben sich Mühe, die Verantwortung für die „Massenselbstmorde“ auf die Toten abzuschieben. Wenn Guru Di Mambro „mich zu dem Transit nach Sirius eingeladen hätte“, sagt Liliane Chantry, „wäre ich gegangen.“ – „Und wenn Tabachnik Sie angerufen hätte?“, fragt der Vorsitzende Richter Dubois. Die Zeugin lacht: „Nein, ihm wäre niemand gefolgt.“ Zu dem Massaker im Vercors, über ein Jahr nach dem Tod von Guru Di Mambro, habe es keine Einladung gegeben, erklärt Chantry, die seit 1979 dazugehörte. „Das waren Durchgeknallte“, sagt sie, „die konnten es nicht ertragen, dass Di Mambro sie nicht beim ersten Mal mitgenommen hatte.“ Eine andere Zeugin sagt zu Tabachniks Entlastung: „Seine Texte hat fast niemand verstanden.“
Die Exanhänger huschen mit tief ins Gesicht gezogenen Mützen ins Gericht. Mit den Journalisten, die den Prozess beobachten, reden sie nicht. Ein Wort des Bedauerns für die Toten hat keiner von ihnen. Selbstkritik über die Sektenjahre auch nicht. Stattdessen beschreiben sie eine „lebensbejahende Gemeinschaft“ und einen „anderen Umgang mit der Natur“. Viele leiden seit den „Ereignissen“, wie das Massensterben in ihrer hermetischen Sprache heißt, an Gedächtnisschwund. Der Homöopath und hoch dekorierte Sonnentempler Christian-Marie Le Gall beispielsweise kann sich zwar noch detailliert an lang zurückliegende „ägyptische Zeremonien“ erinnern, weiß aber nicht mehr, wie die Munition in den Safe seiner Praxis gelangte.
Offiziell ist die Sekte aufgelöst. Aber nach dem mehrtägigen Defilee von Exsektenangehörigen vor Gericht sagt die Schweizerin Rosemarie Jaton, die vier Verwandte bei einem „Massenselbstmord“ verloren hat und in Grenoble auf der Bank der Nebenkläger sitzt: „Die haben das Ende der Sekte nur körperlich überlebt. Nicht seelisch.“ Die Präsidentin der französischen Sektenopfervereinigung, Jeanine Tavernier, ebenfalls Nebenklägerin, konstatiert eine „anhaltende Abhängigkeit“ von der Sekte.
Neben den Familienangehörigen von Sektenopfern haben auf der Bank der Nebenkläger auch Lobbyisten von in Frankreich als gefährlich eingestuften Sekten Platz genommen. Sie wollen vor Gericht das „Recht auf freie Religionsausübung“ verteidigen. Andere Nebenkläger fordern die Vertagung des Prozesses und Ermittlungen in eine ganz andere Richtung. Anwalt Alain Leclerc, der die Angehörigen mehrerer französischer Sektenopfer vertritt, sorgt mit jedem seiner Auftritte für heftige Reaktionen. Hinter seinem Rücken tuschelt man, Leclerc gehöre selbst zu einer Freimaurerloge und wolle in Wirklichkeit den angeklagten Tabachnik verteidigen. Leclerc ist überzeugt, dass im Vercors nicht Sektenmitglieder, sondern eine „externe Equipe“ gemordet hat: „Mafiöse oder Geheimdienstler“.
Ein technischer Experte bestätigt die These von dem externen Mord. Experte Alain Lavoué hat die Lichtung im Vercors untersucht und gefolgert, dass die 16 Personen „von Flammenwerfern“ verkohlt wurden. Da diese Waffe nicht am Tatort gefunden wurde, vermutet der Experte, das Mordkommando habe sie wieder „mitgenommen“. Für die „externe These“ spricht auch, dass in Genf die Hausmeisterin von Ute Verona und ihrer sechs Jahre alten Tochter Tania, die im Vercors starben, nach einem Fernsehinterview Morddrohungen erhielt.
Das Gericht ist nachlässig
Aber das Gericht verfolgt diese Vorwürfe nicht. Es kümmert sich auch nicht um den Verbleib der zweistelligen Millionensummen, die die Sekte nachweislich bei ihren wohlhabenden Angehörigen angehäuft und in Europa, Kanada und den USA investiert hat. Das Gericht hält sich an die Ermittlungen des Untersuchungsrichters, der die „externe Mordthese“ kategorisch ausschließt.
Dass sich überhaupt ein Gericht an den „Massenselbstmord“ einer Sekte heranwagt, ist neu. Bislang schlossen die Ermittler bei vergleichbaren Dramen ihre Akte mit dem Hinweis: „Selbstmorde“ beziehungsweise „Morde im geschlossenen Raum – keine überlebenden Täter“. Doch ist schon jetzt klar, dass nach der Urteilsverkündung in Grenoble viele Fragen offen bleiben werden. Wie 1994 in der Schweiz, wo die Ermittler nach dem ersten Massensterben des Sonnentemplerordens zwar überlebende Angehörige der Sekte verhörten, sie aber anschließend schutzlos ziehen ließen: „Keine Verdachtsmomente“. 15 Monate später sollten viele von ihnen im Vercors umkommen.
Dass Initiierte dergleichen auch für die Zukunft nicht ausschließen, zeigt die Zeugenaussage von Evelyne Bellaton. Fünfzehn Jahre nach ihrem Austritt aus der Sekte sagte die Sängerin in Grenoble vor dem Gericht: „Ich habe immer noch Angst vor den geheimen Großmeistern von Zürich.“
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